Tränen, Schweiß und Geld
Im Gegensatz zu den anderen Künsten lässt sich die Geburtsstunde des Kinos sehr genau bestimmen: Es geschah in der Mittagszeit des 19. März 1895. Zu diesem Zeitpunkt postierte sich Louis Lumière mit seinem Cinématograph in der Rue Saint-Victor gegenüber der Hausnummer 22-23 und forderte seine Angestellten auf, die optischen Werke, die er zusammen mit seinem Bruder Auguste betrieb, durch das Fabriktor zu verlassen. Die stattlichen Arbeiterinnen in strengen Kleidern und breitkrempigen Hüten, die ernsten Herren in Arbeits- und Bürokleidung, ein verschmitzt dreinschauender Radfahrer, ein herrenlos durch die Menge springender Hund und schließlich einige Pferde und Kutscher sollten die ersten Darsteller der Filmgeschichte werden.
Dazu muss man einschränken: aus französischer Sicht, denn Pioniere in Deutschland, den USA und England reklamieren ebenfalls für sich, das Kino erfunden zu haben. Aber die französische Variante hat den größten Nachruhm geerntet und sich als die erfolgreichste Legende gleichsam offiziellen Status erobert. Die Fabrik steht nicht mehr, aber das erste Filmdekor hat die letzten 120 Jahre als Ruine überdauert. Der "Hangar du Premier Film" ist das spirituelle Zentrum des Institut Lumière, als dessen Präsident ein weiterer berühmter Sohn Lyons, Bertrand Tavernier, nun Bertrand Tavernier fungiert. Der einst arglos gefilmte Fabrikschuppen wurde zum 100. Jubiläum unter Denkmalschutz gestellt und die Rue Saint Victor feierlich in Rue du Premier-Film umgetauft. Die damaligen Feierlichkeiten gehören zu meinen kostbarsten Erinnerungen. Tavernier wählte bewusst den 100. Jahrestag der ersten Dreharbeiten und nicht etwa den der ersten Filmvorführung in Paris, denn dieses Datum wollte er den Filmemachern widmen. Gut drei Dutzend Regisseure aus aller Welt waren seiner Einladung gefolgt, darunter Aki Kaursimäki, Youssef Chahine, Miguel Littin, Claude Sautet, Stanley Donen und Stephen Frears; der Doyen dieser Hommage war der Hollywoodveteran André de Toth, der beinahe selbst so alt wie das Kino war, aber darauf bestand, nicht im Rollstuhl zu sitzen sondern diesen munter vor sich her zu schieben. Er erinnerte daran, wie viel die Filmemacher den Brüdern aus Lyon verdanken: "Schweiß, Tränen und viel Geld!"
In der Tat verweisen die ersten 50 Filmsekunden schon auf Vieles, was danach folgen sollte: Das Schillern zwischen vorgefundener Realität und Inszenierung – Louis Lumière ließ das Defilee seiner Angestellten gleich noch zweimal wiederholen, wobei er bereits mit unterschiedlichen Einstellungsgrößen experimentierte -; auch die Doppeldeutigkeit des Kinos als Kunst und Industrie ist in dieser ersten Einstellung angelegt. Und nicht zu vergessen das Moment der Fiktion, denn die Angestellten der Lumière werden schließlich nicht bereits um die Mittagszeit Feierabend gehabt haben.
Zum 100. Jubiläum wurde diese erste Einstellung mit den eingeladenen Regisseuren als Statisten nachgestellt und mit einem originalen Cinématographen der Lumière gefilmt. Genau wie vor 100 Jahren klappte es auch am 19. März 1995 nicht auf Anhieb: Die Regisseure waren beim ersten Versuch in die falsche Richtung marschiert. Sie waren es wohl nicht gewohnt, auch einmal selbst Regieanweisungen zu folgen.
Die erste Einstellung der Filmgeschichte ist wahrscheinlich zugleich diejenige, die am häufigsten Gegenstand eines Remakes ist. Schon die Brüder Lumière ließen sie von ihren Operateuren in anderen Städten nachdrehen. Ein Gutteil der Remakes geht zweifellos auf das Konto des im letzten Jahr verstorbenen Harun Farocki, der sich Jahrzehnte lang mit diesem emblematischen Bild auseinandersetzte. Dass gleich in seiner Geburtsstunde Kino und Industrie zusammenkommen, intrigierte ihn. Zumal die Arbeitswelt fortan ein vom Kino durchaus vernachlässigtes, ja vermiedenes Sujet werden sollte. Die Überlegungen, die er in Worten und Bildern zur Einstellung der Lumière-Werke anstellte, münden nun postum in einer faszinierenden Installation, die er zusammen mit der Künstlerin Antje Ehrmann konzipierte. Sie trägt den Titel "Eine Einstellung zur Arbeit" und ist bis zum 6. April noch im Berliner Haus der Kulturen der Welt zu sehen.
Sie besteht aus drei Teilen. In der Lobby ist eine Arbeit Farockis aus dem Jahr 2006 zu sehen, die Filmausschnitte aus elf Jahrzehnten versammelt, in denen Arbeiter beim Schichtende zu sehen sind. Das Spektrum reicht von den Lumières über Griffith, Lang und Chaplin bis "Dancer in the Dark" (hier ist auch eines der ersten Remakes zu sehen, eine Aufnahme von Arbeitern, die der Öumière-Operateur Gabriel Veyre vor einer Fabrik in Hanoi gedreht hat). Die zwei folgenden Räume sind aus Workshops hervorgegangen, die Ehrmann und Farocki von 2011 an in 15 verschiedenen Städten, darunter Bangalore, Berlin, Boston, Genf, Hangzhou, Rio de Janeiro, Lissabon, Lodz und Boston, abhielten. Die Teilnehmer sollten Einstellungen drehen, die nicht länger als zwei Minuten dauern und Prozesse materieller Arbeit zeigen. 90 dieser Einstellungen sind auf 15 Leinwänden zu sehen, die im Ausstellungsraum zu schweben scheinen. Sie besitzen eine eigentümliche Reinheit, sind konzentriert auf ihren Gegenstand. Es findet keine Wertung statt (entfremdete Arbeit, Ausbeutung etc.), die soziale Situation der Gezeigten lässt sich jedoch mitunter extrapolieren. Was die Arbeit für sie bedeutet, ist bisweilen zu erahnen. Das Ensemble erweckt einen Eindruck des Enzyklopädischen; die Szenographie lässt auch Sichtachsen zu, um Verrichtungen an den unterschiedlichen Orten gleichzeitig in den Blick zu nehmen. Hinter einem Vorhang schließlich befindet sich eine Reihe von Monitoren, die an den 15 Drehorten die Lumiére-Szene aktualisiert. Hier klingt mitunter auch das zweite große Thema Farockis an, die Überwachung.
Das Fehlen jedweden Kommentars empfand ich, im Gegensatz zu einigen Kritikern, nicht als eine Schwäche der Ausstellung. Da das reine Schauen in Deutschland nicht genügt, sondern der Reflexion und Einordnung bedarf, wurde zu Beginn ein ausgreifendes Symposium veranstaltet. Das haben wir nun verpasst. Dafür gibt es jedoch eine Zeitung zur Ausstellung, die sehr informativ ist. In Lyon übrigens wird das 120. Jubiläum der ersten Dreharbeiten ganz volkstümlich gefeiert. Ab morgen Mittag können die Bürger der Stadt dort ihre eigene Version der "Sortie de l'usine Lumière" drehen.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns