Geschichtsschreibung im Eiltempo

Die Bäckerei des Viertels, in dem ich regelmäßig in Paris unterkomme, ist bekannt für ihre Croissants und hat in Patisserie-Wettbewerben schon manchen siebten oder achten Platz belegt. Ich habe sie erst mit einigen Jahren Verspätung entdeckt, hole das das Versäumnis aber nun durch tägliche Einkäufe nach. In der letzten Woche fiel mir beim Schlangestehen ein Brot auf, das als „Le Pain de 14“ in den heiteren Farben der Trikolore beworben wurde. Auf meine Anfrage erläuterte die Verkäuferin, es sei eine Kreation aus Anlass des 100. Jubiläums des Großen Krieges.

Da ich der Letzte in der Schlange war und sie etwas Muße hatte, erzählte sie, welch genaue Bewandtnis es damit hat. Das Rezept stamme von einem Familienbetrieb aus der Marne, den „Moulins Bourgeois“, deren Gründer als Bäcker am Krieg teilgenommen hatte. Ihm zu Ehren habe sein Enkel ein Brot kreiert, dessen Laib genau der Menge (750 Gramm) entsprach, die jeder Rekrut damals als Tagesration erhielt. Heute, klagte die Verkäuferin, würde jeder Franzose im Schnitt nur ein Viertel dessen verzehren. Da der Laib eine schöne Form und verheißungsvolle Kruste hatte, griff ich zu. Beim Aufschneiden sah ich, dass es einem hiesigen Graubrot ähnelt. Für den Teig werden Weizen und Roggen mit einer Prise Chicoree (wohl als Hommage an den Kriegsschauplatz Belgien) vermischt. Uns schmeckte das Mischbrot sehr gut und mein Gastgeber nutzte den Anlass, erneut eine seiner Lieblingstheorien zur Sprache zu bringen. Sie besagt, dass es nach Ende des Zweiten Weltkriegs keinen erfolgreichen Film mehr über den Ersten gab. Als Beweis führte er den kapitalen Misserfolg von Filmen wie „Wege zum Ruhm“ (heute ein Klassiker, damals ein Flop – und überdies Jahrzehntelang in Frankreich von der Zensur verboten), Loseys „Für König und Vaterland“, „Johnny zieht in den Krieg“ und Rosis „Batallion der Verlorenen“ an. Ein paar Gegenbeispiele fielen mir schon ein („Man nannte es den Großen Krieg“ von Mario Monicelli, „Mathilde – Eine große Liebe“ mit Audrey Tautou), aber generell musste ich ihm zustimmen. Gründe für dieses erloschene Interesse fanden wir auch diesmal nicht.

Während wir fachsimpelten, wurde in dem Konzertsaal Salle Pleyel einige Kilometer entfernt die restaurierte Fassung von Abel Gance' epochalem Weltkriegsfilm „J'accuse“ (Ich klage an) mit einer von Philippe Schoeller (dem Bruder des Regisseurs Pierre) neu komponierten und von Frank Strobel dirigierten Musik aufgeführt. Das war eine hochkarätige Veranstaltung - unter den illustren Gästen befand sich Staatspräsident Francois Hollande -, die den Auftakt des offiziellen Festprogramms zum Jahrestag des Kriegsbeginns bildete. In Frankreich wird er am heutigen 11. November begangen, dem Datum der Kriegserklärung. Aus diesem Anlass läuft Gance' Antikriegsepos heute kurz vor Mitternacht auf arte (und ist, falls Sie der Sendetermin zu nachtschlafener Zeit abschreckt, danach bestimmt noch in der Mediathek verfügbar). Bei mir hat er einen starken Eindruck hinterlassen, seit ich ihn zum ersten Mal sah. Die Auferstehung der gefallenen Soldaten am Schluss ist legendär und besitzt immer noch mächtige Symbolkraft. 95 Jahre nach seiner Entstehung verlangt der Film einen gewährenden (was nicht gleichbedeutend ist mit nachsichtig) Blick. Entkleidet man die Symbolsprache ihrer übertragenen Bedeutung, bleibt ein Furor der Konkretion. Gance ist ein exzentrischer Visionär. Jean Epstein pries ihn als einen Vorläufer, in dessen Werk die Innovationen bereits ihre vollendete Form fanden.

Das Drehbuch schrieb Gance in den letzten Kriegsmonaten und die Dreharbeiten fanden bereits kurz nach dem Waffenstillstand statt. Er ließ Frankreich keine Schonfrist, sich wieder mit den Schrecken des Krieges auseinanderzusetzen. Nicht nur ästhetisch war „J'accuse“ dem französischen Kino des Jahres 1919 weit voraus, er entwirft am Ende auch eine europäische Perspektive des Zusammenlebens der verfeindeten Nationen. Ein Besuch der neu eröffneten Fondation Jérôme Seydoux-Pathé hatte mich ein, zwei Tage zuvor an die Bedeutung des Films erinnert. Diese erste private Filmstiftung Frankreichs pflegt das Erbe des vor dem Ersten Weltkriegs größten Filmkonzerns der Welt. Im November läuft in dem von Renzo Piano spektakulär gestalteten Bau (der sich von der Straße jedoch so diskret ausnimmt, dass ich zunächst an ihm vorbeiging) eine kleine Filmreihe mit restaurierten Pathé-Filmen zum Großen Krieg. Eigentlich sollte an diesem Tag auch eine Ausstellung zum gleichen Thema der Öffentlichkeit zugänglich sein. Die war aber noch nicht fertig, als ich mittags ankam. Allerdings gab es schon in einigen Vitrinen Dokumente, Briefe, Fotos und Plakate zu „J'accuse“ zu sehen, der der erste Welterfolg von Pathé nach dem Krieg war. Ich nutzte die Gelegenheit, um einen anderen Gance-Film zu sehen, „Paradis perdu“ von 1939. Dieses erstaunliche Melodram mit Micheline Presle kannte ich bislang nur in einer schauderhaften Videokopie, die anzuschauen ich nur wenige Minuten ertragen konnte.

Wie der Zufall es wollte – und seit meinem vorherigen Eintrag wissen Sie, dass dieser in Paris inspirierter sein kann als anderswo -, ist das einer der ersten Filme, die Francois Truffaut als Kind sah. In „Die Filme meines Lebens“ beschreibt er, welch trauriger Einklang zwischen den Ereignissen des Films und der Lebenswirklichkeit Zuschauer am Vorabend des Zweiten Weltkriegs plötzlich herrschte: In der Szene, in der die Liebenden unversehens Abschied von einander nehmen, als sie die Nachricht vom Kriegsausbruch erreicht, blieb im Kinosaal kein Auge trocken. Mich nahm der Moment auch ziemlich mit, muss ich gestehen. Als ich nach dem Film in meine Lebenswirklichkeit zurückkehrte, war die kleine Ausstellung fertig. Das Kino muss in Windeseile handeln: Das wusste Abel Gance schon 1919. Und sein Vermächtnis ist offenbar in flinken Händen.

 

 
 

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