Slow Cinema: Warum so langsam?
»Memoria« (2021). © Kick the Machine Films, Burning, Anna Sanders Films, Match Factory Productions, ZDF-Arte, Piano
Das Slow Cinema geht schon in die dritte Generation. Jetzt kommt mit »Memoria« von Apichatpong Weerasethakul wieder ein klassisches Beispiel für diesen meditativen Stil ins Kino. Dass es sich dabei nicht nur um eine Manier oder Marotte, sondern eine Haltung zur Welt handelt, erläutert Georg Seeßlen
Der Legende nach war es Michel Ciment, der als Chefredakteur von »Positif« den Begriff »Slow Cinema« für die Beschreibung der Filme von Béla Tarr, Tsai Ming-liang oder Abbas Kiarostami einführte. Möglicherweise gab aber auch der britische Kritiker Jonathan Romney, der 2004 Tsai Ming-liangs »Goodbye Dragon Inn« so bezeichnete, die Formel vor. Virulent bei Kritikerinnen, Theoretikern und Kurator*innen jedenfalls wurde Slow Cinema erst zu Beginn der Zehnerjahre. Während man sich rasch auf eine Liste der Filmemacherinnen und Filmemacher einigen kann, deren Arbeiten diese Bezeichnung verdienen, fällt es doch immer noch schwer, das Schlagwort mit Beschreibung, Abgrenzung und Analyse praktikabel zu machen. Aber vielleicht ist mit Slow Cinema auch gar nicht so sehr eine bestimmte Art von Filmen gemeint, sondern vielmehr eine bestimmte Art der Film-Wirkung.
Man könnte sehr allgemein sagen, Slow Cinema sei von Beginn an eine Bewegung der Peripherie gegen die Zentren der Traumfabriken gewesen: sehr persönliche Gesten gegen die Action- und Effektgewitter der digital aufgerüsteten Blockbuster, Genauigkeit der Beobachtung gegen Gefühlsmanagement der Bildindustrie. Aber Slow Cinema hat weder stilistische Vorgaben noch technische wie »Dogma«, es ist eher eine Haltung, eine cineastische Philosophie. Möglicherweise trivial erscheint daher eine Gemeinsamkeit: Es geht um Menschen. Also nicht so sehr um Handlung, um Botschaft, um Idee oder gar Effekt, nicht um Utopie oder Hölle, nicht um Aufbrüche ins Unbekannte, sondern um den Zauber der Wirklichkeit.
Das heißt auch, dass filmische Langsamkeit keine eigene »Filmsprache« ist. Weder die »lange Einstellung« noch die Länge des Films insgesamt, weder die Achtsamkeit, mit der der Film hergestellt wird (denn natürlich kann dem Slow Cinema auch ein »Slow Filming« zugeordnet werden), noch die Bewegungsmelodien der Darsteller bilden alleinige Kriterien. Gewiss gibt es wiederkehrende Elemente wie die angesprochene lange Einstellung, den Einsatz von Laiendarstellern oder ein Gespür für die Elemente der Stille sowohl der Sprache als auch der Bewegungen. Überdies finden wir ein Faible für Tableaus, Einstellungen, die zunächst wie eine Fotografie oder eine malerische Komposition wirken. An einem seiner Ränder bewegt sich das Slow Cinema auf die Möglichkeiten der bildenden Kunst hin, auf der anderen Seite zu den Choreographien des Tanz- und Musiktheaters, an einem weiteren zur teilnehmenden psychosozialen Studie und an noch einem Rand zur experimentellen Behandlung von Zeit. Immer aber, und darin liegt der bewusste Bezug vieler Filmemacherinnen und Kritiker zum Neorealismus der Nachkriegszeit, geht es um den Menschen in seiner konkreten Umwelt.
Wie und warum wird Film langsam? Vieles kann Verlangsamung bewirken: die Langsamkeit der Bewegungen, die Langsamkeit der Veränderungen von einer Szene zur anderen, Langsamkeit (bis zur Erstarrung) der Kamerabewegung, die Langsamkeit des Sprechens und die Ausdehnung der Stille, Langsamkeit in der Entwicklung eines Plots (bis hin zu dem Grad, da der Plot hinter der Gegenwart der Personen, dem Gewicht der Worte oder der Komposition der Gegenstände und Landschaften mehr oder weniger verschwindet), Langsamkeit in der Entwicklung von Gefühlsausdrücken, Langsamkeit des Erkennens und Begreifens, des Lesens von Bildern. Aus dem wirklichen Leben wissen wir: Verlangsamung kann es in Augenblicken des größten Glücks ebenso geben wie in Augenblicken der Verzweiflung. Und Verlangsamung kann eine radikal körperliche ebenso wie eine spirituelle Erfahrung sein.
Um nun aber zu begreifen, was Verlangsamung überhaupt ist, muss man sich eine Normalität des Bewegungsbildes – oder eben des Lebens selbst – vorstellen. Wie relativ das ist, begreift man leicht, wenn man etwa seine Lieblings-TV-Serien aus den sechziger Jahren noch einmal ansieht. Mein Gott, wie laaaaaaangsaaaaam – und damals schien die Geschwindigkeit der Bilder und Worte gerade richtig zu sein. Slow Cinema also, und damit haben wir vielleicht wirklich eine erste Definition, setzt Langsamkeit bewusst und methodisch ein. Das heißt: Ein Film, der aus Versehen oder Unvermögen zu langsam ist (wie etwa ein Großteil von sogenannten Trash-Exemplaren des Genrekinos), ist immer noch ein misslungener Film. Und ein Film, der langsam um der Langsamkeit willen ist, bleibt in der Regel leere Formspielerei. Langsamkeit in den Bildern muss etwas mit dem Dargestellten machen, was wiederum in den Blicken etwas auslöst.
Slow Cinema ist zum einen ein Nebenprodukt der (post-)neorealistischen Betrachtungsweise. Um auf den Menschen in seinen Alltagskämpfen eingehen zu können, muss man auch das Zeitempfinden dem Subjekt anpassen. Ein traditioneller Film würde »zehn Minuten Warten« niemals durch reale Zeitdehnung ausdrücken, sondern durch Blicke auf Uhren oder in zunehmend genervte Gesichter. Béla Tarr, nur zum Beispiel, lässt uns fünf Minuten lang Menschen zuschauen, die ziellos durch strömenden Regen gehen. Es ist, als filmte man Zeit selbst. In Tarrs Filmen ist aber auch das Schleichende von Horror und Gewalt zu erleben. Das Chaos fällt selten über die Menschen her, viel eher nistet es sich langsam in einem Leben ein.
Slow Cinema ist auch ein ästhetischer Effekt, der Zuschauer zu einer bestimmten Rezeptionshaltung verführt oder zwingt. Der Umschlag in die Groteske findet sich etwa in den Filmen des Schweden Roy Andersson wie »Songs From the Second Floor«: Verzweifelt umklammert da einer die Beine des Chefs, der ihn gerade gefeuert hat; dreißig Jahre habe er bei ihm verbracht, und die Zeit dehnt sich auch im Blick auf diese trostlos-komische Szene. Es ist die Dauer, die uns verbietet, diese Szene beiläufig zu nehmen, wie so vieles, woran man sich gewöhnt hat.
Im Spiel ist auch eine Form der Magie, der Wiederverzauberung des Alltäglichen, wie man sie etwa in manchen Filmen der Berliner Schule wiederfindet. Oder eine radikale Entfremdung wie zuweilen bei David Lynch, wo etwas, nur weil es sich so langsam abspielt, unheimlich wird. Man muss etwas nur lange genug ansehen. Dann wird es entweder unerträglich schön oder wohlig grausam.
Verlangsamung erzeugt eine fundamentale Nähe zwischen Filmemachern und Abgebildetem. Besonders in Filmen des Mumblecore ist man einfach dabei, auch dann, wenn scheinbar nichts geschieht oder die Personen nur dummes Zeug von sich geben. Bei Salomé Jashi, im Dokumentarfilm »Taming the Garden«, sehen wir sehr intensiv einem unsinnigen Projekt zu – dem buchstäblichen Verpflanzen alter Bäume – und Menschen, die etwas tun, das für sie keinen Sinn mehr ergeben kann.
Slow Cinema kann auch als Element des »transzendentalen Stils« eingesetzt werden. Die Unerträglichkeit des Daseins, das nur durch eine Revolte oder nur durch eine Erfahrung der Gnade erlöst werden kann, offenbart sich hier auf der Ebene der Zeit. Der Qual, die kein Ende nimmt, wird nicht nur die sadistische Lust, sondern auch alle solutionistische Hoffnung ausgetrieben; je größer die Gewalt, desto langsamer wird der Film bei Michael Haneke, und je größer die Unerträglichkeit, desto nachhaltiger der Blick bei Ulrich Seidl. Der Film, der dem Zuschauer und der Zuschauerin die Gnade des Wegsehens und des raschen Vergehens verweigert, muss eine Suche nach Gnade oder Lösung außerhalb des cineastischen Raums auslösen. Der Vorgang des Verbrennens in Robert Bressons »Jeanne d'Arc«-Film ist zugleich jetzt und ewig, ist zugleich Schmerz und Erlösung. Ewig heißt nicht »endlos lang«, sondern »ohne Zeit«. Es gibt eine Form der filmischen Einstellung, die die Überwindung von Zeitlichkeit anzudeuten vermag.
Dann ist da der Radikalismus der Apokalypse oder der fundamentale Pessimismus wie etwa bei Béla Tarr. Tarrs »The Man from London«, eine Simenon-Verfilmung von 2009, die gemessen an den 450 epochalen Minuten von »Satantango« (1994) oder den 145 Minuten der »Werckmeisterschen Harmonien« (2000) schon fast wie Selbstreduktion wirkt, zeigt uns gewissermaßen in einer Verdichtung, worum es in vielen Slow-Cinema-Filmen geht: die Nähe zu Menschen, denen nicht zu helfen ist.
Eine weitere Variante des Slow Cinema ist eine spirituelle Versenkung, ein Kino der Kontemplation und der Meditation. Hier finden wir immer wieder Filme, die aus bestimmten religiösen Erfahrungen heraus gestaltet werden. Bi Gan, sozusagen Vertreter der dritten Slow-Cinema-Generation, hat sich mit seinen beiden Filmen, »Kaili Blues« und »Eines langen Tages Reise in die Nacht«, den Ruf eines chinesischen Tarkowski eingehandelt. Die Reise, die an der Oberfläche zurück in das Heimatdorf geht, das man einst verlassen musste, führt tatsächlich in die Nacht von Tod und Verlust, aber eben auch zu einer Art von Vereinigung. Die angemessene Bewegung von Slow Cinema ist eine Rückkehr, die zugleich Versenkung ist. Eine cineastische Inversion: Weil das Voranschreiten in der Geschichte keinen Sinn mehr ergibt, bleibt nur die Reise ins Innen, und weil es eine sinnvolle Verbindung zu anderen Menschen in Arbeit und Alltag nicht mehr gibt, bleibt nur eine spirituelle Verbindung. Schließlich, da gelangt man zu einem der Schlüsselwerke, an denen sich Wertschätzung und Diskussion entzündeten, geht in Apichatpong Weerasethakuls »Onkel Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben« von 2010 die Reise zurück über die Spanne eines Menschenlebens hinaus.
Slow Cinema kann eine Form der Abstraktion sein. Der anhaltende Blick erkennt Muster, die es im dramatischen oder realistischen Blick nicht gibt. Die Figuren erstarren oder stecken in rituellen, repetitiven Bewegungen fest, sie sind räumlich oder durch Objekte voneinander getrennt, sie sehen einander nicht wie in den Filmen von Roy Andersson.
Dann ist da der schiere ästhetische oder narrative Protest gegen Konvention und Mythos. Ein Film wie »Slow West« verkündet bereits im Titel, dass er der Erzählweise des Westerns widersprechen wird. Aber wirklich slow wird der Westen eher in »First Cow« von Kelly Reichardt oder in »Dead Man« von Jim Jarmusch, der eigentlich eine lange Todesfantasie ist. Reichardt verbindet Slow mit einem großen Gefühl für lyrische Kompositionen, in denen nicht nur die Charaktere in meditative Ruhe versinken. Es geht hier vielleicht um eine Suche nach einer neuen Form von innerem Frieden. Und dabei wird die Sensibilität auf die Einzelheiten gelenkt, wie man Wasser schöpft und Brennholz sammelt und wie sich die Räder eines Planwagens anhören, die über die Prärie rumpeln. Zu dem Konzept gehört auch der Verzicht auf die Handlungselemente. Am Ende, übrigens vielleicht doch ein wiederkehrendes Motiv im Slow Cinema, bleibt der meditative Blick an einem Baum hängen. (Und tatsächlich: Bräuchte Slow Cinema ein Markenzeichen, der Baum böte sich an.) Auch der georgische »Taming the Garden« handelt von Bäumen (jenen alten Exemplaren, die ein Milliardär sammelt und über das Meer schickt) und wandelt sich immer wieder in reine Bild-Magie.
Das Anknüpfen an kulturelle und künstlerische Traditionen: Es ist schon fast ein Klischee, dass viele Meisterinnen und Meister des Slow Cinema aus asiatischen und nichtchristlichen Traditionen des Jenseits und aus eher kreisförmigen Zeitkonstruktionen schöpfen.
Auch eine Technik ist die Identifikation der Erzählzeit mit der Lebenszeit. Es ist eine andere Erzählzeit, ob ich von Kindern oder von Greisen erzähle – ich denke an die Geschichte der alten Frau, die sich weigert, ihre Heimat zu verlassen, die von einem Stausee überflutet werden soll, in Lemohang Jeremiah Moseses »This Is Not a Burial, It's a Resurrection«. Die Langsamkeit kann ein Ausdruck von Respekt sein. Aber in einem Film wie »Broken Flowers« von Jim Jarmusch ist die Langsamkeit eben auch die des Charakters von Bill Murray (kann man überhaupt Filme mit Bill Murray »schnell« erzählen?). Bei Lav Diaz entsprechen sich Entstehung und Laufzeit. »Evolution of a Filipino Family«, eine Familiengeschichte mit dem Fokus auf der Marcos-Diktatur, die über einen Zeitraum von zehn Jahren entstand, hat eine Länge von 660 Minuten und widerspricht damit der Zeitsprung-Ästhetik traditioneller Langzeitbeobachtungen im Film. Diese Bewegung hat einen politischen Aspekt: Auch Macht und Gewalt haben eine Dimension der Dauer.
Verlangsamung als Lebenserfahrung und politisches Statement. Dort, wo Verlangsamung als existenzielle Erfahrung (Krankheit, Alter, Tod, Gefangenschaft) oder aber als soziale Erfahrung gesehen wird, wie in den Filmen von Bruno Dumont etwa, entspricht Slow nicht mehr bloß einer Gegenposition zur typischen Hollywood-Überdosierung, sondern einem genauen Blick auf Verhältnisse. Der Mensch, der in einer Verlangsamung lebt, ist der Mensch, der »nicht mitkommt«.
Slow ist auch die Arbeit der Erinnerung, wenn man sie anders als ein Flashback als bleibendes und lastendes Trauma begreift. Die Erinnerung als Lastendes finden wir bei Chantal Akerman ebenso intensiv wie bei Pedro Costa and Lav Diaz. Die Geschichte verlässt die Menschen auch dann nicht, wenn sie sie überwunden glauben oder zu vergessen hoffen, und damit steht auch die Konstruktion einer Identität durch Geschichte infrage.
Slow kann ein Verfremdungseffekt sein. Wie könnte man nicht an die Eingangssequenz von »Spiel mir das Lied vom Tod« von Sergio Leone denken? Hier geht es freilich weniger um eine Verlangsamung als um eine Dehnung der Zeit. Es gibt im Übrigen eine Beziehung der Verlangsamung zum Tod. In Pedro Costas »Vitalina Varela« (2019) zum Beispiel steckt das alles in der cineastischen Bewegungsform: die Entfremdung, die Vertreibung, die Einsamkeit und das Sterben an einem Ort, der nicht Heimat ist. Es geht um Menschen, die in einer Welt leben, die nicht die ihre ist.
Das Bewegungs- und Zeit-Bild als Meditationsteppich: Marion Hänsel montiert in »Nuages – Lettres à mon fils« (2001) ihre Reflexion über das Leben und die Mutterschaft mit »unendlichen« Bildern von Wolken, und in seinem letzten Film zeigt Derek Jarman nichts als die Farbe Blau.
Man darf (oder muss, wie man es nimmt) sich in Landschaften versenken wie in den Filmen von Lav Diaz, Lisandro Alonso oder Carlos Reygadas. Je näher man die Natur betrachtet, desto deutlicher wird, dass der Mensch in ihr nicht zu Hause ist.
Die pure Konzentration auf eine Handlung oder eine Situation, die sozusagen aus dem Raum-Zeit-Kontinuum ausgeschnitten wird, zeigt etwa »Letters from the Desert« von Michela Occhipinti. Darin fährt ein Briefträger mit dem Fahrrad durch die Thar-Wüste in Indien, um auch in die entlegensten Orte Post zu bringen. Mehr passiert nicht. In dieser Konzentration wird das, was im Bewegungsbild normalerweise vom Film selbst geliefert wird, in die Fantasie-Arbeit der Zuschauer*innen übertragen.
Slow Cinema ist bei alledem natürlich auch ein ästhetisch-technischer Vorgang, der nicht nur äußere Bedingungen wie lange Einstellung, langsame Bewegung, Bilder und Töne einer gefrorenen Zeit umfasst. Nur einige Möglichkeiten des Slow: Die Zeit wird nicht durch Handlung ausgedrückt (in Gilles Deleuzes Terminologie von Zeit-Bild versus Bewegungsbild wäre dies das Bewegungsbild), sondern Handlung (Beziehung) durch Zeit (für Deleuze näherten wir uns also dem Zeit-Bild). Der Dialog treibt nicht die Handlung voran, sondern deutet Charaktere und Beziehungen. Die Montage folgt eher einer Zeit-Logik als einer Raum-Logik; die Kontinuität einer Einstellung erzeugt automatisch die Diskontinuität des Schnitts. Die Einstellung beginnt gewissermaßen von null und erzeugt eine Autonomie des Sehens; das Bild ist die Frage, nicht die Antwort. Der akustische Raum ist eher enger als der visuelle Raum. Sie bilden keine Einheit. Die inneren Stimmen und die äußere Handlung werden einander fremd. Der Plot ist eher dezentral, nicht auf Anfang und Ende, Subjekt und Objekt, Aktion und Reaktion bezogen, sondern eher auf einen »Zeitkegel« im Sinne von Bergson, also das Gedächtnis als Raum der Vergegenwärtigungen. Dem entsprechen die bevorzugten Bewegungsarten, das Zufußgehen, das Taxifahren als Endlosbewegung, die Busreise, Fahrradfahren.
Slow sorgt für die Wiederverzauberung des Alltäglichen. In etlichen Slow-Cinema-Filmen werden gewöhnliche Dinge gefilmt, als wären es Gegenstände von erhebender Demut. Wie in der Eingangseinstellung von »Ghost Tropic« (Bas Devos, 2019) kann ein langer, unbewegter Blick in eine Wohnung ein Menschenleben beschreiben, ohne dass der Mensch selbst sichtbar werden muss.
Natürlich sind Filme, denen man das Attribut Slow Cinema gibt, immer auch eine Zumutung, eine Herausforderung (Nick James nennt es in »Sight & Sound« sogar eine »passive Aggressivität«). So leidenschaftliche Befürworter*innen Slow Cinema gefunden hat, so sehr standen andere vehement gegen ein »elitäres« Kino für Festivals und Arthouses auf. Wie dem Slow Food und Slow Travel hat man dem Slow Cinema vorgeworfen, sich an Privilegierte zu wenden, und tatsächlich verfügen die meisten der von Slow-Filmen abgebildeten Menschen kaum über die freie Zeit, die man zu dieser Art Sehen benötigt.
Aber all das ist ja kein Selbstzweck. Es gibt Verbindungen zu anderen Impulsen, nehmen wir ein »Kino der Sanftmut« als Beispiel. Ein Kino, das seinen Figuren weder das große Drama noch die gnadenlose Selbstentblößung abverlangt, sondern einfach Raum gibt. Es zeigt, hier liegt ein Schnittpunkt zwischen den beiden Tendenzen, seine Figuren oft in einer betont langsamen Bewegung, beim Gehen (jüngst etwa wieder in »Come On, Come On« von Mike Mills, der um das klassische Generationengespräch konstruiert ist) oder wie in Nanni Morettis »Caro Diario« beim entschleunigten Vespa-Fahren.
Eine zweite Schnittstelle ergibt sich für ein Kino der Spurensuche und der Rückkehr. Es erzählt, es forscht in die Vergangenheit hinein. Typisch dafür vielleicht Chantal Akermans »Journey to the East«. Der Film beschreibt eine magische Umkehr der »Reise«, die die Eltern der Autorin einst antreten mussten, als sie 1938 von Polen nach Belgien flohen. Verlangsamung und Re-/De-Konstruktion von Zeit, Erinnerung und Erwartung sind kein Selbstzweck; Slow Cinema ist eine Absage an die große Fortschritts- und Wachstumserzählung.
Slow Cinema ist drauf und dran, von einem Kritiker*innen-Begriff zur Beschreibung einer bestimmten Haltung zu einer filmästhetischen und filmpolitischen Bewegung zu werden. Das AV Festival organisierte schon 2012 ein »Slow Cinema Weekend«. Gezeigt wurden Spiel- und Dokumentarfilme von Ben Rivers, Lav Diaz, Lisandro Alonso and Fred Kelemen. Das Rotterdam Film Festival widmet den Hubert Bals Fund vor allem der Produktion von Filmen, die unter den Begriff des Slow Cinema fallen, etwa von Reygadas, Alonso, Apichatpong und Diaz.
Vieles hängt auch hier mit Personen zusammen. So ist etwa die französische Publizistin Nadine Mai als Kritikerin, Chronistin und Organisatorin seit Jahr und Tag mit dem Slow Cinema verbunden. Sie hat – neben Matthew Flannegans »Slow Cinema: Temporality and Style in Contemporary Art and Experimental Film« und der von Tiago de Luca und Nuno Barradas Jorges herausgegebenen Essaysammlung »From Slow Cinema to Slow Cinemas« – die umfangreichste Darstellung vorgelegt, »The Arts of (Slow) Cinema«. Drei Jahre lang arbeitete der Streamingdienst Tao Films – von Nadine Mai mitbetrieben – explizit auf dem Feld des Slow Cinema; mittlerweile hat man dort eine kreative Pause eingelegt.
Mais Grundthese ist, dass Slow Cinema weniger eine direkte formale Reaktion auf das Effekt- und Geschwindigkeitserzählen des globalen Mainstreams ist als vielmehr ein Reflex auf Einsamkeit, Entfremdung und Verzweiflung im postindustriellen Zeitalter. Sie sieht den cineastischen Gestus an zwei historische Ereignisse gebunden: den Fall der Mauer bzw. den Niedergang des sozialistischen Blocks und die globale Bewegung von Landflucht und Entwurzelung. Wenn man diese These weiterspinnt, mag man Slow Cinema sogar als filmische Reaktion auf die kapitalistische Globalisierung ansehen. Verlangsamung wäre nichts anderes als Widerstand gegen das besinnungslose Tempo des welterobernden Kapitalismus.
Auf der anderen Seite ist die – erzwungene – Dauer gerade die Welterfahrung der Opfer dieser Beschleunigung; während sich Kapital und Waren, Blut und Drogen in rasender Bewegung befinden, sind die Menschen zu Warten und »Nichtstun« verurteilt.
Und vielleicht ist dies eine weitere Gemeinsamkeit vieler Filme: Sie sind auf der Seite der Verlierer, der Wanderarbeiter, Kleinkriminellen, armen Bauern, Sweatshop-Arbeiterinnen, der Mütter und Alten ohne familiären Rückhalt, der Arbeitslosen, Drogenkranken ... Nach den Zehnerjahren zeigen die Filme unter dem Siegel Slow Cinema daher vor allem die Erschöpfung und den Verlust an. Der Stillstand der Handlung wäre demnach identisch mit einem Stillstand der Gesellschaft, dem Stillstand der Biografien, die aus dem Blickfeld der neoliberalen Erfolgsgeschichten und Scheiterdramen herausfallen. Ein besonderes Motiv ist die Situation von Flüchtlingen. In den Camps, in denen sie leben müssen, gibt es diesen Stillstand – wie in »Ta'ang« von Wang Bing (2016). Aber auch die Grenze ist ein solcher, denken wir an Chantal Akermans auf der Documenta gezeigte Film-Installation »From the Other Side«. Die Figuren erstarren oder wiederholen endlos Bewegungen, die zu nichts führen.
Nicht nur in der Zeit-Dimension also gerät Slow Cinema immer wieder an die Grenzen des klassischen Kinoformats; wo nicht mehr erzählt werden kann, macht auch die Blackbox-Inszenierung des Films keinen Sinn mehr. So wenig man siebenstündige Spielfilme wie Tarrs »Satantango« oder neunstündige Dokumentationen wie »Tie Xi Qu: West Of The Tracks« von Wang Bing »weggucken« kann, so wenig kann man die Schrecken der Globalisierung und den Verlust der Konstruktion von Eroberung, Fortschritt und Lösung als Sinn von Handlung in eine plane Projektion übertragen. Während das Mainstreamkino darauf zielt, die Zeit während des Events zum Verschwinden zu bringen, geht es beim Slow Cinema gerade um ihre Erscheinung. Slow Cinema ist ein Kino der Trauer, vielleicht. Ein Kino, das über die Grenzen geht, ist es allemal. Daher wird immer wieder, was sich so angelegentlich mit Vergangenheit und Erinnerung beschäftigt, auch utopisch.
Höchst unvollständige Liste für Streifzüge durch das Slow Cinema
VORLÄUFER & PROPHETEN
Robert Bresson, Andrei Tarkovski, Theo Angelopoulos, Michelangelo Antonioni, Carl Theodor Dreyer, Yasujiro Ozu, Kenji Mizoguchi, Andy Warhol, Michael Snow, Jean-Marię Straub & Danièle Huillet, Abbas Kiarostami
DIE ZEITGENÖSSISCHEN KLASSIKER
Chantal Akerman, Aleksandr Sokurov, Alberto Serra, Nuri Bilge Ceylan, Béla Tarr, Jim Jarmusch
DIE ASIATISCHE FILM-REVOLTE
Apichatpong Weerasethakul, Tsai Ming-liang, Wang Bing, Jia Zhangke, Liu Jiayin, Hu Bo, Lav Diaz
EUROPÄISCHES SLOW CINEMA
Ben Rivers, Michelangelo Frammartino, Roy Andersson, Jacqueline Zünd, Cristi Puiu, Michaël R. Roskam, Šarūnas Bartas
USA (Vom Underground zum Independent)
Kelly Reichardt, Sofia Coppola, Ramin Bahrani, Matt Porterfield, Jem Cohen
AFRIKA & LATEINAMERIKA
Pedro Costa, Carlos Reygadas, Lisandro Alonso, Jessica Beshir, Kleber Mendonça Filho
IRAN
Bahman Kiarostami, Maryam Moghadam & Behtash Sanaeiha
DER DOKUMENTARFILM
James Benning, Nikolaus Geyrhalter, Jennifer Peedom & Joseph Nizeti, Ekta Mittal, Laila Pakalnina, Lars Dolkemeyer, Stephanie Spray & Pacho Velez
DRITTE GENERATION
Lucile Hadžihalilovic, Abderrahmane Sissako, Marian Crisan, Joachim Trier, Lemohang Jeremiah Mosese, Corneliu Porumboiu, Valérie Massadian, Michela Occhipinti, Nicole Vögele
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