Kolonialismus: Reise in Grenzregionen
»Der vermessene Mensch« (2022). © Studiocanal GmbH / Willem Vrey
Der Kolonialismus ist derzeit ein umkämpftes Thema, von der Raubkunstdebatte bis zu den Kontroversen um die postkoloniale Theorie. Und das Kino hat ein Repräsentationsproblem: Wie von der Gewalt erzählen, die der Westen den Gesellschaften des Globalen Südens angetan hat?
Kolonialismus ist eine historische Verbindung von Gewalt, Ausbeutung und Ideologie. Diese Form der Herrschaft ist nach und nach mit den Befreiungsbewegungen, mit den Kämpfen um Menschen- und Bürgerrechte, mit einer mehr oder weniger neuen Ordnung der Welt verschwunden. Nicht verschwunden sind Gewalt, Ausbeutung und Ideologie. Und nicht verschwunden ist der Blick, in dem dies alles geschehen kann. Aus dem Blick der Kolonialisten ist der kolonialistische Blick geworden, und aus diesem der postkoloniale wie der postkolonialistische Blick. Zum Beispiel im Kino. Und das eine ist vom anderen gar nicht immer so leicht zu unterscheiden.
Um ein wenig wilde Nacktheit und suggestive Natur zu erleben, musste man in der BRD der fünfziger und sechziger Jahre im Kino nach Afrika reisen. In »Dokumentarfilmen«, in denen neben gefährlichen Raubtieren die Tänze halbnackter schwarzer Frauen nicht fehlen durften, oder in Trash-Fantasien wie »Liane, Das Mädchen aus dem Urwald« (1956), in denen es keine Frage war, wer allein die Wildnis und die Menschen darin beherrschen konnte: die weißen Jäger, Forscher, Ärzte, Missionare und Farmer. Der Film »Unser Haus in Kamerun« (1961) mit dem blauäugigsten jungen Deutschen Götz George erklärte schon im Titel den Besitzanspruch und bot die zivile Fortsetzung der kolonialistischen Fantasien aus dem Kaiserreich und dem »Dritten Reich«, wo Hans Albers 1941 als »Carl Peters« das deutsche Wesen verkörperte, an dem die Welt genesen sollte.
In dem Film von Herbert Selpin steckt der deutsche Kolonialist in einem dreifachen Kampf: gegen die aufmüpfigen, »aufgehetzten« Afrikaner, das britische Empire und gegen die jüdisch-demokratische Feigheit daheim. »Ohm Krüger« (1941) und »Germanin – Die Geschichte einer kolonialen Tat« (1943) vervollständigen die antibritische Propaganda; in Letzterem geht es um eine deutsche Expedition, die den Einheimischen ein Mittel gegen die Schlafkrankheit bringt, was das perfide Albion verhindern will. Der Trick der deutschen Kolonialfilme bestand darin, nicht für den Kolonialismus per se zu plädieren, sondern den guten – deutschen – gegen den bösen – britischen – Kolonialismus in Anschlag zu bringen. Diese Dualität von verständiger, aber tatkräftiger Führung gegen die willkürliche und gewalttätige Erscheinungsweise von Besitznahmen im fremden Land wurde in vielen Varianten auch nach dem Krieg weiterentwickelt und Teil unserer Kultur- und Bildergeschichte: nicht Kritik, sondern »Reinigung« des Kolonialismus.
Noch ein Film wie »Dschungelzeit«, 1988 in Koproduktion der DDR mit Vietnam entstanden, folgt dieser Tradition und präsentiert einen deutschen Helden in einer recht einfältigen Geschichte von Verbrüderungen, deren hehre Worte mit der Bildsprache von der weißen Hegemonie in sonderbarem Kontrast stehen. Auch in der DDR, vor allem in den Unterhaltungs- und Abenteuerserien des Fernsehens, lebte die Fantasie vom white savior fort, ohne die eine Befreiung vom Joch des Kolonialismus nicht vorstellbar war, und auch hier regierte eine Dualität, nun die zwischen bösem kapitalistisch-imperialistischem Kolonialismus und der guten »Völkerfreundschaft«.
Eine andere Verdrängungsstrategie war die Karnevalisierung. In der BRD waren Klamotten wie »Ehrenhäuptling der Watubas« (1974) mit Hans-Joachim Kulenkampff als »Käpt’n Senkstake«, der als gutmütiger Kolonialist vor allem auf der Flucht vor den erotischen Zumutungen der Wilden ist, zur Nachfolge von Nazifilmen wie »Quax in Afrika« (1943) bestimmt. Hier wie dort wehrt der deutsche Held die erotische Provokation der afrikanischen Frau ab, was für das Publikum insofern leicht zu akzeptieren ist, als sie so slapstick- und klamottenhaft daherkommt und die gute weiße Frau als besseres Triebziel ins Bild gerückt wird. Trotzdem gibt es auch hier eine Art kolonialer Nostalgie. Denn nirgendwo darf man sich so sehr als Mann fühlen wie in der Welt, in der die Natur sexuell und die Sexualität natürlich ist. Indem er diesen Zustand genießt, ist dieser kryptokoloniale Mann seines Geschlechts sicher, indem er sich ihm entzieht, ist er sich seiner Überlegenheit sicher. Und wie steht es mit dem Vater von Pippi Langstrumpf, der ja bekanntlich irgendwo ein weißer Häuptling eines schwarzen Volkes ist? Nun, er hat wohl den Vorteil, dass in Wahrheit nicht einmal Pippi selbst seinen Geschichten glaubt.
Der Übergang vom kolonialistischen zum nachkolonialistischen Blick ist so fließend wie der Übergang des nationalsozialistischen Unterhaltungsfilms zur Film- und Fernsehunterhaltung der fünfziger und sechziger Jahre. Wo Carl Peters noch imperialen Besitz und geostrategische Position suchte, da hatte der Georg Ambrock von »Unser Haus in Kamerun« einen anderen Anspruch: Heimat war es, was er finden und verteidigen wollte und wovon er und seine Familie unentwegt redeten. Und in dieser neuen deutschen Heimat waren schwarze Menschen kindlich dankbar und immer gut drauf, weiße aber Garanten von Ordnung und Gesundheit. Unnütz zu sagen, dass es zu dieser Zeit so gut wie keinen kritischen Einwand gegen die »postkoloniale Idylle« gab. Das Bildbegehren der Nachkriegsgesellschaften war auf diese beiden Traumwelten ausgerichtet: das sichere Zuhause und das exotisch-suggestive Traumreich. Afrika war da ein Sehnsuchtsort, in dem sich beides miteinander verknüpfen ließ. Dazu aber mussten die koloniale Vergangenheit im Allgemeinen und die Verbrechen, die in Deutsch-Südwest und anderswo begangen wurden, im Besonderen ausgeblendet werden. Überdies waren Nachrichten aus dem wirklichen Afrika noch spärlich und verwirrend. Auch in der allgemeinen Bilderproduktion, in den Schulen, den Comics, in den Veranstaltungen der Mission, war dieses postkoloniale Bild vorherrschend.
15 Jahre später wurden in einer Serie der Herero-Aufstand und seine grausame »Niederschlagung« immerhin nicht verschwiegen. Omaruru von Peter Schulze-Rohr und Hagen Mueller-Stahl stellt einmal mehr die deutsche Farmerfamilie und ihre afrikanische »Heimat« in den Mittelpunkt. Durch ihre harte Arbeit und ihren freundlichen Umgang mit den »Eingeborenen« haben sie offensichtlich diesen Platz verdient. Auf die Figur des guten Deutschen, der sich für die Belange der Afrikaner einsetzt, die hilflos und kindlich sind, wird auch hier nicht verzichtet. Unvorstellbar, so scheint es, ist für das deutsche Kino so etwas wie der britische Film »Die letzten Tage in Kenia« (1987) oder der französische »Der Saustall« (1981), die mit bitterem Sarkasmus die Gesellschaft der Kolonialisten in all ihrer Borniertheit und Brutalität entlarven: Auch im Kolonialismus gibt es eine »Banalität des Bösen«.
Je mehr freilich sich die Nachrichten aus den Kolonien und Ex-Kolonien häuften, je mehr sich Befreiungsbewegungen und (Post-)Kolonialisten wieder mit blutiger Gewalt begegneten, je mehr auch sich eine afrikanische Diaspora entwickelte, desto mehr Hysterie mischte sich in die Idyllen-Fantasmen, mit Schockmontagen in »Dokumentarfilmen« wie dem italienischen »Africa Addio« von 1966. Proteste von deutschen und afrikanischen Studentinnen und Studenten und empörte Kritiken schmälerten zwar kaum den Publikumserfolg der Filme, aber es begann immerhin eine kontinuierliche Auseinandersetzung um das angemessene Bild. Und es begann sogar eine cineastische Auseinandersetzung mit dem Bildererbe des Kolonialismus, nur zum Beispiel in Ralph Giordanos »Heia Safari – Die Legende von der deutschen Kolonialidylle in Afrika« (1966). Da heißt es, zur Collage entsprechender Bilder: »Welche Reiche bei uns auch immer stürzten. Welche Regierungsformen wechselten, welche Flaggen niedergeholt oder gehisst wurden: diese Szenen sind eiserne Überlieferung. Treue Askari und frohe Eingeborene vereint unter dem starken Schild eines Patriarchats mit der Aufschrift: Streng aber gerecht.« Giordano gab den Nachfahren der Opfer und den afrikanischen Historikern wohl zum ersten Mal das Wort. Das von ihm zitierte Bild aber entstand doch immer wieder in einer nächsten Variation, angereichert mit aktuellen Bezügen: der Kolonialismus »gereinigt« von seinen Verbrechen, romantisiert, entpolitisiert, banalisiert. »Nichts«, so Giordano, »hat unsere Gegenwart so lebhaft und so unabgenutzt erreicht wie dieses romantisierte Verhältnis zwischen der deutschen Kolonialmacht und ihren schwarzen Schützlingen.«
Der Unterhaltungskultur in Deutschland fiel dieser Prozess von Verdrängung und Fiktionalisierung leichter als etwa in Frankreich, Großbritannien oder Belgien, wo die Entkolonialisierung der Welt auch tiefe Wunden in den ex-kolonialistischen Gesellschaften riss. In Deutschland dagegen konnte man sich mit einer kolonialen Vergangenheit arrangieren, ohne sich mit einer kolonialistischen und antikolonialistischen Gegenwart auseinandersetzen zu müssen.
Kritische Deutungen blieben ebenso Minderheitenprogramm, wie die Filme, die nun auf dem afrikanischen Kontinent selbst entstanden, nur von einem kleinen cineastisch und politisch engagierten Publikum aufgenommen wurden. Und viele der afrikanischen Filme waren schon deshalb schwer zu verstehen, weil sie ja nicht einfach ein Gegenbild zu den kolonialistischen Stereotypen liefern konnten, sondern von den Schmerzen und Widersprüchen der Entkolonialisierung und postkolonialer Herrschaftsverhältnisse geprägt waren und sind. Auch sie spiegeln Kämpfe wider mit staatlicher und religiöser Zensur, mit mangelnder ökonomischer Unterstützung und mit dem Druck des Mainstreams. Exemplarisch vielleicht die Arbeiten von Haile Gerima.
Es ist der Begriff »Sankofa« im äthiopischen Sprachgebrauch, den Haile Gerima als Titel für seinen Film aus dem Jahr 1993 wählte. Er meint etwa »Rückkehr in die Vergangenheit, um die Zukunft gestalten zu können«. Das wäre im Übrigen wohl das treffende Motto aller postkolonialen Erinnerungsarbeit. Der Film beginnt damit, dass ein äthiopischer Filmstudent in Los Angeles den Schrecken der Sklaverei in einem Traum erlebt, den er dann in einen Film umsetzen will. Dass Sankofa, eine grandiose Reflexion über Erinnerung, Trauer und Bilder, überhaupt vollendet werden konnte, ist ein kleines Wunder. Im Film wie in seiner Produktionsgeschichte zeigt sich nebenbei die Verbindung zwischen antikolonialistischen Bewegungen in Afrika und dem Bürgerrechtskampf der afroamerikanischen US-Bürger, deren Unterstützung Gerima zunächst genoss. Doch unter der Regentschaft von Ronald Reagan organisierte sich eine weiße Reaktion gegen die afroamerikanische Emanzipation, was sich in den Arbeitsbedingungen von nichtweißer Kultur niederschlug. Und wie es auf der Produktionsseite für jedes antikolonialistische Bild den Widerpart rechter weißer Politik gibt, so gibt es auf der Rezeptionsseite eine immer noch postkoloniale Marktsituation. Auf dem Weltmarkt der Bilder sind kritische, unabhängige afrikanische Filme nicht ohne ein weißes liberales Publikum und seine kulturellen Institutionen zu denken. »Unsere Filmemacher sind vom eigenen Publikum abgeschnitten.« So der Produzent Pedro Pimento aus Mosambik 1993 in einem Gespräch mit der Schweizer Zeitschrift »Zoom«.
Nicht nur die historische Reflexion, auch die Produktion von visueller Erinnerungsarbeit geriet in den 1990ern in Bewegung. Die Bilder des deutschen Unterhaltungs- und Mainstreamfilms indes ließen sich die beiden Komplementärträume, die Ex-Kolonie als nostalgischer Heimattraum und als sinnlich-exotischer Sehnsuchtsort, deswegen noch lange nicht nehmen. Dazu gehört auch eine Projektion von Natur und von der Notwendigkeit ihres Schutzes. Der legendäre Film »Serengeti darf nicht sterben« (1959) hatte den Diskurs der »Bewahrung« paradiesischer afrikanischer Natur durch weiße Forscher, Wildhüter und eben Bilderproduzenten eröffnet. Mit dem ökologischen und kulturellen Bewusstsein freilich entwickelte sich eine Tourismus-Industrie, deren hässliche Seiten in unseren Tagen etwa in Filmen wie »Paradies: Hoffnung« (2013) oder »Safari« (2016) von Ulrich Seidl reflektiert sind.
In aller Regel aber nutzt die deutsche Unterhaltungsindustrie Afrika als Hintergrund für Melodramen. Das bedeutet, dass die Idylle/Wildnis-Verbindung als emotionale Kulisse für die Steigerung der Gefühle verwendet wird. Man kann etwa den Liebes- und Familienfilmen von Caroline Link wie »Nirgendwo in Afrika« (2001) oder »Exit Marrakech« (2013) ganz direkt dabei zusehen, wie sich die Perspektive verengt. Afrika intensiviert mit seinen suggestiven Landschaften Begehren und Sentiment, doch wenn die Aufgabe des Films, die Produktion des Paares, die Restauration der Familie, erfüllt ist, werden der Kontinent und seine Menschen mehr oder weniger egal. Afrika im deutschen Unterhaltungsfilm ist kein Bild, sondern ein Spiegel: Die Weißen (die Nachfahren der Kolonialisten) sehen am Ende immer nur sich selbst.
In den neunziger Jahren formierte sich in Deutschland eine neue Welle des revisionistischen Afrikafilms. Erneut, wenn auch nun vielleicht in einer oberflächlich nach political correctness strebenden Form, wird aktualisiert, was Anne McClintock in ihrem Buch »Imperial Leather: Race, Gender, and Sexuality in the Colonial Contest« (1995) so definiert: »Porno-tropics for the European imagination – a fantastic magic lantern of the mind onto which Europe projected its forbidden sexual desires and fears«. Die Porno-Tropics erscheinen im deutschen Unterhaltungsfilm vor allem als Melo-Tropics. Diese emotionale und moralische Grenzregion spiegelt sich schon in den Titeln der Filme wider, die in deutschen Kinos oder über deutsche Bildschirme liefen: »Eine Liebe in Afrika« (2003), »Der weiße Afrikaner« (2004), »Kein Himmel über Afrika« (2005), »Afrika – Wohin mein Herz mich trägt« (2006), »Mein Herz in Afrika« (2007), »Mein Traum von Afrika« (2007). Es ist ein Sehnsuchtsort, der von den historischen Reminiszenzen an den Kolonialismus gereinigt ist. Es geht dabei um den immer gleichen Dreischritt, den Wolfgang Struck in einem aktuellen Appendix zu seinem Buch »Die Eroberung der Phantasie: Kolonialismus, Literatur und Film zwischen deutschem Kaiserreich und Weimarer Republik« an Filmen wie »Wüstenblume« (2009) zeigt: »Auf den ersten Schritt, in dem die historische Realität der Kolonie defiguriert wurde durch eine Phantasie, in der sich die sexualisierte Natur (›Afrika‹) und die naturalisierte Sexualität (der afrikanischen Frau) überlagern, Gewalt in Natur, Natur in Sexualität verwandelt wird, folgt ein weiterer Schritt, in dem dann diese Natur domestiziert wird durch die Narration, ohne dabei aber vollständig ausgelöscht zu werden. Solcherart verzerrt ist die wirkliche Gewalt immer noch präsent. Sie ohne eine derartige Defiguration in die Handlung zu integrieren würde das Melodram sprengen«.
Die Melodramatisierung – europäische Liebes- und Familiengeschichte vor afrikanischer Kulisse – ist gewissermaßen das zivile Gegenbild zu den militaristisch-reaktionären Kolonialfilmen, von denen es so furchtbare Beispiele wie Zulu (1964) gibt, in dem in endlosen Reihen das vergnügte Abschlachten schwarzer Männer zelebriert wird – gerechtfertigt dadurch, dass die Weißen zwar im Besitz der besseren Waffen, aber zahlenmäßig unterlegen sind. In beiden Formen allerdings geht es darum, dass Afrikaner entweder als »dunkle Masse« oder als Charaktermaske (»aufgeweckter Schwarzer Junge«, »gütiger Diener-Freund«, »finsterer Verschwörer/Terrorist«) auftreten. Individualität gibt es für den schwarzen Menschen nur im Kindesalter und als Greis. Auf dem Weg vom autobiografischen Bericht über sehr konkrete Bedingungen und Probleme einer familiären Beziehung zwischen der weißen Kultur und der der Samburu in Kenia zu einem deutschen Mainstreamfilm sieht man auch in »Die weiße Massai« (2005) der Überwältigung von Respekt durch Melodramatisierung zu.
Zu den komplexeren deutschen Filmen zum Thema Kolonialismus gehören natürlich die von Werner Herzog, vor allem die informelle Trilogie mit Klaus Kinski: »Aguirre, der Zorn Gottes« (1972), »Fitzcarraldo« (1982) und »Cobra Verde« (1987), eigentlich Varianten ein und desselben Typus, des Kolonialisten, der an der Fremdheit des Landes, das er so oder so zu erobern versucht, zugrunde geht. Darüber hinaus freilich bleiben Struktur und Absichten der Landnahme und der Raubzüge unsichtbar, stattdessen nimmt das Filmemachen im »exotischen« Land, in Südamerika, selbst Züge kolonialistischer Gewalt an. Und bringt Fitzcarraldo durch die Kunst des Gesangs wirklich eine friedliche Form der zivilisatorischen Aneignung?
Im Kern freilich geht es in diesen Filmen immer nur um das Leitmotiv des Größenwahns, das sich nun eben aus Größe und aus Wahnsinn zusammensetzt. Interessanterweise gehören Herzogs Filme, kontrovers genug zwar, zum Fundus der Bilddiskurse der Postcolonial Studies. Alle diese Männer sind ja nicht nur Protagonisten, sondern auch Verräter an der Sache der Kolonialisten; und anders als in anderen kolonialen Filmen ist die Unsichtbarkeit von Indios oder Afrikanern kein dramaturgisch-ideologischer Trick, sondern ein Teil des Wahns. Die Unsichtbarkeit wird sozusagen sichtbar, so wie die »schwarze Masse« und die »nackten Wilden« – in Form einer Amazonen-Armee in »Cobra Verde« – gegen ihren ikonischen Gebrauch gerichtet sind. Vielleicht versucht Herzog, eine Triebkraft des Kolonialismus zu erforschen, nebst Bedingungen des Scheiterns, die noch vor den militärischen, politischen, ökonomischen, sexuellen und kulturellen (religiösen) Interessen liegen. Eine schwarze Seele des Kolonialismus vielleicht.
Einige Filme der letzten Zeit versuchen, sich aus der Repräsentationsfalle zu befreien. Aber wie sollte man das »richtige« postkoloniale Bild denn definieren in dieser Unübersichtlichkeit?
Zunächst gilt es, Verbrechen und Gewalt des Kolonialismus nicht mehr hinter Melodramatisierung und Romantisierung zu verstecken. »Der vermessene Mensch« (2023) von Lars Kraume nach dem Roman »Morenga« von Uwe Timm erzählt von dem jungen Ethnologen Alexander Hoffmann, der Anfang des 20. Jahrhunderts in der deutschen Kolonie Deutsch-Südwestafrika Zeuge des Völkermords an den Herero und Nama wird. Und trotz aller Widerstände wird auch er Teil des kriminellen Systems, als er die Schädel getöteter Herero zu seinem Professor nach Berlin bringen lässt, der mit ihrer Vermessung seine Rassentheorie stützt. Die Studie der Mitschuld klingt als Idee besser als das, was dann in die Bilder umgesetzt wird, was nicht nur der »Verein Schwarze Filmschaffende« durchaus zu Recht kritisiert.
Man kann das natürlich den Machern des Films oder aber auch der deutschen Filmmaschine zum Vorwurf machen. Aber möglicherweise geht in diesem Bildentwurf, in dem der Massenmord zwar nicht verschwiegen, aber doch vor allem in Bezug auf die Seelenqualen und Gesellschaftszwänge des Europäers beinahe schon verharmlost wird und in dem gleichsam wider Willen die kolonialistischen Stereotypen wieder und wieder auftauchen, noch einmal die postkoloniale Mythologie gegen die postkolonialistische Aufklärung vor. Das postkoloniale Unterbewusstsein überlagert das postkolonialistische Bewusstsein. Den wahren Schrecken muss man sich anhand einer Schlagzeile in »Spiegel online« am 29. Dezember des Jahres 2023 vorstellen: »In deutschen Museen und Universitäten lagern etwa 17 000 menschliche Überreste aus kolonialen Zusammenhängen.«
»Morenga« wurde übrigens schon einmal verfilmt, und zwar als Dreiteiler von Egon Günther im Jahr 1985. Auch der löste eine eher gemischte Reaktion aus; ein »idiotisches Ammenmärchen« laut der »taz«, eine »dreiste Zumutung« wie es Springers »Welt« sah. Was den einen lange nicht genug ist, das ist den anderen schon zu viel an Kolonialismuskritik: Eine Mitte für diese Suche nach dem richtigen Bild scheint es nicht zu geben.
Wer über Kolonialismus im Film nachdenkt, muss eine Vorstellung vom Kolonialismus haben, und es bedarf einer Haltung. Die ist, in einer großen inneren Widersprüchlichkeit, nicht so leicht zu haben. Kolonialismus ist ein historisches Geschehen mit vielen Facetten und Nachwirkungen. Der Universalismus der Aufklärung ist in Beziehung zur Befreiung der Sklaven zu verstehen; als in der Mitte des 18. Jahrhunderts, auf dem Höhepunkt des europäischen Ausbeutungskolonialismus, die ersten Aufstände in Haiti stattfanden, war dies auch eine Inspirationsquelle für die Wegbereiter der Französischen Revolution. So jedenfalls liest es sich in einer Universalgeschichte der Moderne, die bekanntlich mit der Postmoderne verändert wurde. Frantz Fanon oder William Edward Burghardt Du Bois („Die Seelen der Schwarzen«) erkannten, dass das Verhältnis zwischen Kolonialisten und Kolonisierten immer auch eine Frage der Wahrnehmung, eine Frage der Bilder sei. Deshalb blieb der europäische Universalismus eine eher theoretische Angelegenheit, wohingegen »Visualität« zu einem der Schlüsselbegriffe in den postkolonialen Diskursen wurde.
Damit wurde aber auch das Weiß-Sein, das später zur critical whiteness wurde, schon bei den französischen Existenzialisten zu einer Umkehrung: Aus dem Blick der »Farbigen« würde der »Weiße« ausgeschlossen. Jean-Paul Sartre sprach davon, dass die »schwarzen Augen« die Nachkommen der weißen Kolonialisten »aus der Totalität der Welt verbannen«. Umgekehrt aber wurde das Weiß-Sein, das Bild der weißen heterosexuellen Männlichkeit, in der Bild- und Filmgeschichte so hegemonial, dass alles, was nicht weiß, männlich und heterosexuell war, an die Peripherie oder sogar über den Rand hinaus gedrängt wurde. Das Farbige, Weibliche und Nicht-heterosexuelle konnte nur in der dienenden Funktion, zur Bestätigung dieses Zentrums akzeptiert werden. Aber dieses Bild an der Peripherie rebellierte schon von Anbeginn auch; die Sehnsucht des (jungen) Mannes in der weißen Mehrheitsgesellschaft träumte sich an die Ränder, sah die eigene Gesellschaft mit den Blicken der Peripherie. So entstand der doppelte Blick: Huck Finn, der die Welt mit den Augen des entflohenen Sklaven Jim sieht, Winnetou, der nichtweiße und möglicherweise auch nichtheterosexuelle Widerpart, Filme, die immer mehr vom Robinson auf die Freitag-Figur schwenken. Aber wie kann sich Freitag emanzipieren, wenn er doch ursprünglich nichts anderes ist als eine Projektion von Robinson? Die größte Lüge, die man über den Kolonialismus, auch und gerade in seiner filmischen Form, verbreiten kann, besagt, dass er irgendwie vorbei sei.
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