Olive Kitteridge: Unwiderstehlich bissig
Sky Deutschland strahlt im Februar die vierteilige HBO-Miniserie Olive Kitteridge aus - Obwohl es um Selbstmord, Depression und Alter geht, ist sie eine der unterhaltsamsten ihrer Art. Frances McDormand spielt die Titelfigur, deren Leben im saturierten Maine über 25 Jahre hinweg geschildert wird
Die zweite Lebenshälfte, die Spanne zwischen dem mittlerem und dem tatsächlichen Alter, ist filmisch noch weitgehend unerforschtes Gebiet. So gesehen ist Olive Kitteridge ein typisches HBO-Projekt: gewagt, den herkömmlichen Publikumsgeschmack herausfordernd und fast ein bisschen obszön. Das Leben einer Frau zwischen Mitte 40 bis Anfang 70 als Miniserie zu erzählen, das war wahrscheinlich weit schwerer durchzusetzen als die Idee zum jüngsten Amazon-Serienerfolg, Transparent, in dem ein jüdischer Familienvater im Rentenalter endlich seine Transgender-Seite auszuleben beginnt. Geholfen hat dabei sicher, dass Olive Kitteridge auf einer »Pulitzer-Preis«-gekrönten literarischen Vorlage (Deutsch: »Mit Blick aufs Meer«) basiert. Und dass mit Frances McDormand als Hauptdarstellerin und Lisa Cholodenko als Regisseurin zwei Frauen das Projekt vorantrieben, die zwar nicht gerade Kassenmagneten sind, aber doch im Independent-Film-Kreisen einen ausgezeichneten Ruf und eine engagierte Anhängerschaft genießen.
Als wollten die Macherinnen von Anfang an nichts von der heuchlerischen Beschaulichkeit der meisten »frauenaffinen« TV-Erzählungen aufkommen zu lassen, beginnt Olive Kitteridge – fast – mit einem Knall: In der ersten Szene sieht man die Titelheldin als alte Frau ein lichtes Wäldchen betreten, es ist Frühjahr, die Äste sind kahl, der Boden mit verrottetem Laub bedeckt. Wie zum Picknick breitet sie eine Decke aus, schaltet auf dem mitgebrachten Transistorradio einen Klassikkanal ein und holt aus ihrer Handtasche einen Revolver heraus. Ihr müder und gleichzeitig entschlossener Blick lässt keinen Zweifel an dem, was sie vorhat. Dann springt die Handlung 25 Jahre zurück.
Spannung zu erzeugen durch eine geladene Pistole ist ein so billiger wie alter Trick. Aber schon mit den nächsten Minuten der ersten Folge wird klar, dass es hier um mehr geht, als darum, uns für weitere 233 Minuten bei der Stange zu halten. Selbstmorde bilden eine Art roter Faden in den Geschichten von Olive Kitteridge. Ihr eigener Vater habe sich erschossen, wird man Olive mehrfach erzählen hören, eine Nachbarin, Mutter eines ihrer Schüler, wird sich erhängen, deren Sohn wird Jahre später in die Kleinstadt zurückkehren und sich seinerseits das Leben nehmen wollen, und der Kollege, zu dem Olive sich hingezogen fühlt, wird auf nächtlicher Straße sehr wahrscheinlich absichtlich zu schnell fahren. Und damit sind die grimmigen Ereignisse rund um Olives Leben keineswegs erschöpfend aufgezählt. Gibt es doch noch die alltäglichen, nicht weniger deprimierenden Rückschläge wie die Entfremdung von ihrem Sohn, der sie später nicht einmal mehr anruft, um ihr die Geburt des Enkels mitzuteilen.
In der Tat, die auf vier, jede etwa eine Stunde dauernden Folgen aufgeteilte Miniserie ist alles andere als heiterer Stoff. Und doch gehört Olive Kitteridge zu den unterhaltsamsten und, ja, witzigsten ihrer Art. Verantwortlich dafür ist in erster Linie Hauptfigur Olive, die in bewundernswerter Weise, ohne jede Scheu davor alt auszusehen, von Frances McDormand verkörpert wird. Eine Frau wie sie findet man im Kino so gut wie gar nicht mehr, und wenn, dann nur als Nebenfigur in der Funktion eines Kontrastmittels zu jüngeren, erfolgreicheren und vor allem liebenswerteren Figuren. Olive ist schon zu Beginn der Serie »alt« für Filmmaßstäbe, sie besitzt einen scharfen Verstand und ein bitterböses Mundwerk, und trotzdem ist es ihr Denken und Empfinden, für das man sich hier als Zuschauer am meisten interessiert. Ihrer Umgebung erscheint die Mathematiklehrerin, die in der zweiten Folge bereits in Rente geht, oft als »Monster«, und weil sie klug ist, weiß sie das auch. Aber sie kann sich eben auch nicht helfen. Besserwisserisch unterbricht sie Konversationen durch grammatische Korrekturen – »die Wärme eines Feuers sieht man nicht, man spürt sie« –, bei der Hochzeit ihres Sohnes bringt sie das Blumenmädchen zum Weinen. Es mehren sich die Vorfälle, in denen kleine Kinder sie »Hexe« nennen.
Aber so glaubhaft die Serie schildert, dass ihre Umgebung sie schrecklich findet, so sehr ist man als Zuschauer/Zuschauerin dazu verführt, sich mit ihr zu identifizieren: Gleich in der zweiten Szene sieht man ihren Mann Henry (Richard Jenkins) erwartungsvoll am Frühstückstisch sitzen, vor sich eine herzförmige Schachtel Pralinen. »Einen glücklichen Valentinstag, Olive«, strahlt er seine Frau an, als diese die Küche betritt. Sie würdigt ihn keines Blickes, sagt trocken ein »Dir auch, Henry« in den Raum, und macht sich mit dem Rücken zu ihm ans Kaffeekochen. Die Kamera fängt ihr Augenrollen ein. Sicher, man ist ein bisschen entsetzt über ihre demonstrative Lieblosigkeit, aber der Kamerablick auf das Augenrollen macht einen automatisch zum Komplizen mit ihr. Und wer kennt nicht das widersprüchliche Gefühl, dass man sich von einem Akt der Zuneigung mehr benutzt und belastet fühlt denn geschmeichelt und geliebt?
Olive Kitteridge ist voller solcher genau beobachteter Momente des Zusammenlebens. Die Serie ist ein weiteres exzellentes Beispiel für die Kunst des Erzählens, mit dem das Fernsehen in den letzten Jahren so erfolgreich sein Prestige erhöht hat. Wie in den Sopranos, in Mad Men oder in Breaking Bad stehen auch hier Antihelden im Zentrum, doch es geht nicht darum, sie mit rebellischem Schick oder Sex-Appeal auszustatten, sondern sie auf gemeinmenschliches Maß zu bringen.
Die liebenswerteste Figur der Serie ist Olives Mann Henry, von Richard Jenkins mit feinsten Nuancen als unglaublich gutmütiger, aber auch etwas beschränkter Sympath gespielt. Er ist der perfekte Gegenpol zu seiner giftigen Frau und hängt doch an ihr wie an keiner anderen. Daran ändert auch seine mausige Angestellte Denise (genial gespielt von Zoe Kazan) nichts, für die er jahrzehntelang auf zarte, väterlich beherrschte Weise schwärmt. Aber Schicht für Schicht arbeitet die Serie auch die neurotische Seite seiner Ritterlichkeit heraus. Genau wie Olive kann auch er sich nicht helfen: Er muss einfach immer nett sein.
In der literarischen Vorlage ist Olive im Übrigen nur eine unter vielen Charakteren. Schildert doch Elizabeth Strout in ihrem »Roman in Geschichten« die wohlstandsdeprimierten Schicksale einer Vielzahl von Maine-Bewohnern, die längst nicht alle mit Olive bekannt sind. Es klingt nach Vereinfachung oder sogar Verflachung, dass in der Fernsehfassung Olive zur beherrschenden Hauptperson aufsteigt. Aber das Gegenteil ist der Fall: das Drehbuch von Jane Anderson, die Regie von Lisa Cholodenko und das Spiel von McDormand holen etwas aus der Vorlage heraus, das zugleich berührender und komplexer, witziger und tiefer scheint.
Das Format der Miniserie kommt dem Stoff auf fast geheimnisvolle Weise entgegen: schwer zu sagen, warum man sich einen 233-minütigen Film über eine ausgesprochen bissige ältere Frau und ihre oft unglückliche Ehe mit einem herzensguten Langweiler als Kinofilm zwangsläufig als Geduldsprobe vorstellt. Die vier Folgen jedenfalls verlangen geradezu danach, am Stück gesehen zu werden.
Vielleicht ist es ja auch einfach die Qualität des Schreibens, auf das eben in den heutigen TV-Produktionen mehr Sorgfalt verwendet wird, als das im Kinobusiness der Fall ist. Obwohl Olive Kitteridge durchaus auch mit seinem atmosphärischen Maine-Setting, der rauen Schönheit und vor allem dem rauen Wetter dieser Landschaft beeindruckt, sind es die geschliffenen Dialoge, die im Gedächtnis bleiben. Man kann kaum genug kriegen von Olives sarkastisch-scharfen Bemerkungen. Als trauernder Witwer fragt Bill Murray sie an einer Stelle nach einem Grund fürs morgendliche Aufstehen. »Keine Ahnung«, antwortet sie ohne jede Ironie, »ich warte auch nur darauf, dass der Hund bald stirbt und ich mich erschießen kann.« Und es wundert einen überhaupt nicht, dass Bill Murray sie in diesem Moment unwiderstehlich findet.
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