Melodien für Halunken

Fünfzig Jahre Filmmusik von Ennio Morricone
"Spiel mir das Lied vom Tod" (1968)

Er ist der Star seiner Profession, hat mehr als fünfhundert Scores produziert, dem Western neue Klangräume eröffnet und unzählige Schießereien durchgetaktet. Er hat Mythen orchestriert – und ist längst selbst ein Mythos. Mit einer Konzertreise, die auch nach Deutschland führt, feiert Ennio Morricone jetzt sein Jubiläum als Filmkomponist.

 

 

 

Filmmusik wird in der Regel mit der Stoppuhr komponiert. Ihr Einsatz muss abgestimmt werden mit der Länge der Einstellungen, ihr Rhythmus reagiert auf die Schnitte. Sie ist nicht allein der eigenen Logik verpflichtet; die Entwicklung von Motiven und melodischen Bögen muss sich vielmehr mit der Abfolge der Bilder verbinden. Das ist Präzisions-, auch Kärrnerarbeit. Kann ein Komponist, der rund 500 Filme vertont hat, sich jedes Mal die Zeit dafür nehmen?
Um ein solches Pensum zu bewältigen, hilft es, wenn man wie Ennio Morricone jeden Morgen um halb fünf aufsteht und sich nach einer halben Stunde Gymnastik an die Arbeit setzt. Es spart womöglich auch Zeit, wenn man nicht am Klavier, sondern am Schreibtisch komponiert, da man ohnehin in Noten denkt. Ungeheuer hilfreich ist es natürlich, wenn man sich nicht mit Details aufhält, sondern das große Ganze im Blick behält. Einige seiner berühmtesten Filmmusiken hat Morricone geschrieben lange bevor die erste Klappe fiel. Er versteht es, Drehbücher so zu lesen, dass sie bei ihm bereits Bilder und Töne hervorrufen. Manchmal kommt die Inspiration sogar schon, bevor überhaupt ein Drehbuch existiert. Sergio ­Leone hat von dieser seherischen Fähigkeit gern profitiert. Die Musik zu Leones Spiel mir das Lied vom Tod (1968) war so früh fertig, dass er sie Claudia Cardinale vorspielen konnte, die eigentlich in keinem Western auftreten wollte, sich dann aber von der träumerischen Gesangsstimme überzeugen ließ, dass in diesem Film Platz sein würde für eine feminine Sensibiliät. Auf dem Set wurde die Musik als Stimulans für Darsteller und Team ge­spielt. Kameramann Tonino Delli Colli beklagte sich zwar ständig, weil niemand seine Anweisungen hören konnte. Aber Henry Fonda bestand darauf, dass sie zu jedem Take gespielt wurde: »Ich gehe anders, wenn ich sie höre.« 

Harmonie der Gegensätze  

In einer Kunst, in der eines präzis ins andere greifen muss, muss man dieses Talent zur Vorausschau schon ein Mysterium nennen. Um eine Partitur unabhängig von den Bildern komponieren zu können, braucht es Weitsicht, einen untrüglichen Instinkt, eine intime Kenntnis des Mediums und der Absichten des jeweiligen Filmemachers. Morricone bringt  zudem eine umfassende musikalische Kultur mit. Er wird 1928 im römischen Stadtteil Trastevere geboren. Der Vater arbeitet als Trompeter in Unterhaltungsorchestern. Als sein Sohn sechs Jahre alt ist, drückt er ihm das erste Instrument in die Hand. Im gleichen Jahr beginnt Ennio zu komponieren. Er geht an die berühmte Akademie Santa Cecilia, um dort Trompete und schließlich auch Komposition unter Goffredo Petrassi zu studieren. Er begeistert sich für die musikalische Moderne, wird später bei den legendären Darmstädter Ferienkursen Pierre Boulez, Luigi Nono und Karlheinz Stockhausen kennenlernen und zeitweilig mit John Cage arbeiten. Wenn der Vater krank ist, muss Ennio als Trompeter für ihn einspringen. Mit 15 Jahren spielt er für alliierte Soldaten, die in Rom einmarschiert sind. Dabei entdeckt er, dass »Musik nicht nur eine Wissenschaft ist, sondern ein Erlebnis«.
Fortan vereint er die widersprüchlichen Impulse, die ihn umtreiben. Er komponiert avantgardistische Konzertstücke und arbeitet zugleich als Arrangeur im Radio und Fernsehen. Er wird Songschreiber und Arrangeur für populäre Sänger wie Mario Lanza und Milva. Schon in den fünfziger Jahren ist er als Orchestermusiker an Filmaufnahmen betei­ligt. Er arbeitet an Partituren mit, für die andere Komponisten mit ihrem Namen zeichnen. 1961 feiert er sein offizielles Debüt im Kino mit Luciano Salces antifaschistischer Komödie Il Federale (Zwei in einem Stiefel). Seither ist er zum Multimillionär geworden. Sein Name auf dem Filmplakat besitzt oft größere Anziehungskraft als der des Regisseurs oder der Darsteller. Aber beinahe hätten Dimitri Tiomkin und Miles Davis seine Karriere verhindert.

Ketzerischer Unernst

Zusammen mit Sergio Leone revolutioniert Morricone den Western. Ihre Verbindung gleicht einer katholischen Ehe, die erst durch den Tod geschieden wird. Der eine ist ohne den anderen nicht denkbar. Dabei lässt sich ihre Zusammenarbeit zunächst nicht gut an. Der Regisseur möchte, dass der Komponist ihm für Für eine Handvoll Dollar 1964 ­einen Score schreibt, der sich an Dimitri Tiomkins Musik für Rio Bravo orientiert. Dazu ist Morricone zu stolz: Er hat seine eigenen Ideen.
 

Das musikalische Vokabular, das er in seinem ersten Western ausformuliert, ist unerhört. Der Einsatz von Instrumenten ist exzentrisch und aufsehenerregend. Sie ahmen das Geräusch von Pferdehufen und das Knallen von Peitschen nach, sie beziehen den Lärm der Schusswaffen mit ein. Unverhofft sind menschliche Stimmen zu hören – vor allem die der Sopranistin Edda Dell’Orso, mit der Morricone noch heute, zuletzt bei The Best Offer Das höchste Gebot, arbeitet. Clint Eastwoods Mann ohne Namen wird durch eine Melodie eingeführt, die gepfiffen wird. Morricones Musik unterstreicht das karnevaleske Element, das Leone in das Genre einbringt. Kein Kinogänger hätte bis dahin gedacht, dass Westernmusik so klingen kann. 
 

Ihr Unernst ist ketzerisch. Die Amerikaner sind empört darüber, dass Fremde in ihrem Revier wildern. Doch das Gespann lässt sich nicht beirren. Als einer der Produzenten der Fortsetzung Für ein paar Dollar mehr vorschlägt, doch lieber Miles Davis’ Jazzalbum »Sketches of Spain« zu verwenden, wirft Leone die Platte in hohem Bogen aus dem Fens­ter. Er weiß, dass sich der Kassenerfolg des ersten Films wesentlich dem Eigensinn der Musik verdankt und er in Morricone seinen wichtigsten Mitarbeiter gefunden hat.
 

Fortan stimmt er den Rhythmus seiner Filme auf dessen Musik ab, gibt ihr Raum in langen Kamerafahrten und Landschaftspanoramen. Wenn Leone brüsk von einer Totalen zu einer extremen Großaufnahme schneidet, wechselt Morricone vom großen Orchester zu einem Soloinstrument. Die Film- und die Klangbilder sind in gleichem Maße ironisch überhöht. Dem Gespann geht es nicht um his­torische oder geografische Präzision. Sie bewegen sich auf einem mythischen Terrain. Sie greifen die Folklore des Westerns auf, etwa in dem berühmten Thema aus Zwei glorreiche Halunken, das den Ruf eines Kojoten nachahmt und mit Indianertrommeln unterlegt ist.
 

Der Anfang im Italowestern entscheidet über Wohl und Wehe von Morricones Karriere. Gewalt und Tod werden zu einem Filmmotiv seiner Filmografie. Das engt ihn auch ein. (Er wird nicht müde zu betonen, dass er tatsächlich nur 30 Western gemacht, dafür aber Hunderte abgelehnt hat.) Seine musikalische Vorstellungskraft reicht weit über das Genre hinaus. Er vertont Melodramen, Gangster- und Kriegsfilme, Psychothriller, historische Epen, Science-Fiction-Filme, Dokumentationen und auch Komödien wie die Ein Käfig voller Narren-Trilogie; nicht einmal der Animationsfilm fehlt in seinem Portfolio. Er arbeitet mit so unterschiedlichen Regisseuren wie Pedro Almodóvar (Feßle mich!), John Boorman (Exorzist 2), Roman Polanski (Frantic) und Margarethe von Trotta (Zeit des Zorns). Er ist ein verlässlicher Arbeiter im Steinbruch seiner Kunst. Man hat nicht den Eindruck, er müsse wirklich ringen mit den Filmen. Ein Zyniker ist er angesichts seines Akkordtempos nicht geworden, allerdings ein selbstbewusstes Chamäleon. 


Überwältigender Ohrenschein

Die Extravaganz, die Lust am Experiment und die Freude an ungekannten Klangfarben werden zu seinem Markenzeichen. Nicht nur im Genrekino verändert er in den sechziger Jahren die Hörgewohnheiten des Publikums. Er hat Teil an der Aufbruchsbewegung im italienischen Autorenfilm, arbeitet mit Marco Bellocchio, Bernardo Bertolucci (»1900«), Elio Petri und vor allem Pier Paolo Pasolini, die allesamt die gesellschaftliche Zerrissenheit ihres Landes thematisieren. Ihre Filme verlangen eine radikal zeitgenössische Sprache. Pasolinis Große Vögel, kleine Vögel ist 1966 der erste Film, in dessen Vorspann die Namen der Beteiligten gesungen werden. Morricone kann auf seine Erfahrungen aus der Avantgarde zurückgreifen. Häufig engagiert er die Improvisationsgruppe »Nuova Consonanza«, mit der er bereits seit den fünfziger Jahren musiziert. In Filmen wie Pasolinis Teorema und Petris Das verfluchte Haus folgen die Musiker der Eingebung des Augenblicks. Die Stoppuhr ist auch hier nutzlos.
 

Für diesen Komponisten ist alles erlaubt, was dem Film dient. Für ihn muss eine Filmmusik nicht subtil sein, um ihre Wirkung zu entfalten. Sie darf vielmehr augenblicklich signalisieren, was der Film im Schilde führt. Ein solch prägendes Klangbild steht am Anfang von Petris Die Arbeiterklasse kommt ins Paradies (1971). Schon im Vorspann dominiert der mit einem Synthesizer nachgeahmte Lärm einer Maschine und demonstriert, wie sehr das Leben des von Gian Maria Volonté gespielten Akkordarbeiters von unentrinnbarer Mechanik bestimmt wird. So gewinnt der Film sofort eine klassenkämpferische Wucht, die Morricone aufrechterhält, in dem er unablässig zu diesem Thema zurückkehrt. Die Kadenz des Marsches, die stakkatohafte Wiederholung der Noten, stimmt zu Beginn von Gillo Pontecorvos Schlacht um Algier (1966) auf die unausweichliche Konfrontation zwischen der französischen Kolonialarmee und den algerischen Freiheitskämpfern ein, deren erbitterter Widerstand im Einsatz des Klaviers und der Trompete aufklingt.
 

Morricone kann zugleich auch ein Meister der Irritation sein. Er versteht es nicht nur, das Vorhaben eines Films prägnant zu formulieren, sondern auch, diesem eine Ebene des Zweifels einzuziehen. Er liebt es, ein rhythmisches Ungleichgewicht zu setzen. Gern setzt er in solchen Situationen ein verstimmtes Klavier ein, um Argwohn gegenüber der Realität des Gezeigten zu schüren. Er ist um Finten nicht verlegen. Zu Beginn von Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe (1970), Dario Argentos Giallo über die Jagd nach einem sadistischen Frauenmörder, kündigt er dem Publikum eine ganz andere, harmlosere Art von Film an, indem er verträumte Kinderstimmen erklingen lässt.


Die Prüfung im Konzertsaal

Seine musikalischen Ideen entwickelt er in der Regel aus der konkreten Realität der Filme. Die Häufigkeit, mit der sie sich in Für ein paar Dollar mehr am Klang von Uhren  und Glocken inspirieren, demonstriert, welch ein genauer und fantasievoller Leser der Drehbücher er ist. Aber seine Experimentierfreude ist zu groß, als dass er sich damit zufriedengeben könnte, nur die klassischen Funktionen von Filmmusik zu erfüllen. Seine Partituren sind nicht nur beredte Begleiter des Dramas oder kleiden Ambiente und Epoche eines Films musikalisch aus. Sie lassen das Unsichtbare hörbar werden, sind ungemein sugges­tiv. Morricones Musik will nicht hinter die Bilder zurücktreten. Sie fällt auf, fungiert als Kommentar. Ihre Dramatik, ihre Gefühlssprache sind ein zusätzlicher Appell an die Aufmerksamkeit des Zuschauers. Die Bilder würden ganz anders wirken ohne sie.
 

Trotz zahlloser Auszeichnungen, darunter ein Ehren-Oscar für sein Lebenswerk, spürt er vielleicht den Stachel im Fleisch, seine Ambitionen als Komponist »seriöser« Musik hintangestellt zu haben. Seit den achtziger Jahren nimmt er sich wieder mehr Zeit für konzertante Musik. Das Stück »Voci dal silenzio«, das er im Gedenken an die Opfer des 11. September komponiert hat, wird vor den Vereinten Nationen aufgeführt. Darin greift er Motive aus dem Score für Mission (1986) auf – ein so fleißiger Komponist kann nicht umhin, bei sich selbst zu stehlen –, den er als humanistisches Manifest versteht, in dem er die Gegensätze der Kulturen friedlich überbrückt. Und womöglich Abbitte leistet für das viele Blutvergießen in seiner Filmografie?
 

Da er jedoch den Großteil seiner Schaffenskraft der angewandten Musik gewidmet hat, mag er insgeheim die Hoffnung nicht aufgegeben haben, dass auch sie einen Wert als autonomes Kunstwerk hat. Im Alter von 75 Jahren entschließt er sich, Konzerte mit seinen Filmmusiken zu geben. Er bestreitet erfolgreiche Welttourneen. In ihnen zeigt sich, dass seine Stücke auch unabhängig von den Filmbildern ihr Flair entfalten. Sie können im Konzertsaal bestehen. Das ist eine Wette, die er schon vorab gewonnen hat.
Im Rahmen seiner Tournee »50 Years of Music« gastiert Ennio Morricone am 11.2. in  Berlin, am 13.2 in Zürich, am 16.2 in Wien, am 7.4. in München und am 14.4. in  Köln.
 

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