Disney+: »Say Nothing«

»Say Nothing« (Serie, 2024). © Disney+ / FX

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Die Spirale der Gewalt

Belfast, im Dezember 1972. Jean McConville hat ihre älteste Tochter gerade noch mal fürs Abendbrot einkaufen geschickt und sich ein Wannenbad eingelassen, als es an der Wohnungstür klopft. Eines ihrer anderen neun Kinder öffnet, eine Nachbarin und mehrere maskierte Männer stehen davor. Sie zerren Jean McConville aus dem Bad, wenig später sitzt sie im Kleinlaster der Vermummten. »Pass auf die Kleinen auf, bis ich wieder da bin, ja?«, sagt sie noch zu ihrem Ältesten. Es ist das letzte Mal, dass die Kinder ihre Mutter sehen. Entführt und ermordet von der IRA, weil sie für die britische Armee spioniert haben soll. Erst Jahrzehnte später wird ihre Leiche gefunden und bekennt sich die IRA zur Tat.

1972 ist die frühe Hochphase der »Troubles«, des Nordirlandkonflikts, bei dem sich katholische Nationalisten und protestantische Unionisten drei Jahrzehnte lang bekämpften. Divis Flats, die Wohnsiedlung im Westen der Hauptstadt Belfast, in der die Witwe mit ihren Kindern auf engstem Raum lebte, war bis zum Abriss Mitte der Neunziger eine Hochburg der IRA. Ihrer Entführung war eine Eskalation der Gewalt vorausgegangen. Beim Bloody Sunday hatten britische Soldaten 13 unbewaffnete Demonstranten erschossen, daraufhin verübte die IRA zahlreiche Bombenanschläge. Der »New Yorker«-Journalist Patrick Radden Keefe nahm den bis dahin wenig bekannten Fall Jean McConvilles als Ausgangspunkt, um in dem 2018 erschienen Sachbuch »Sage nichts: Mord und Verrat in Nordirland« den drei Jahrzehnte dauernden Konflikt aufzuarbeiten, dem bis zum Waffenstillstand mehr als 3700 Menschen zum Opfer fielen. Dieses Buch als Vorlage einer neunteiligen Miniserie auf Disney+ mag manchem zunächst unpassend erscheinen. Doch die Skepsis erweist sich schnell als unberechtigt. »Say Nothing« ist komplex, spannend, authentisch und relevant. Eine der herausragenden Serien des Jahres.

Als Rahmenhandlung fungiert ein Interview, das 29 Jahre später im Zuge des »Belfast Project«, bei dem sich Zeitzeugen anonym an ihre Verstrickung in die »Troubles« erinnern, stattfand. Erst nach dem Tod der jeweiligen Sprecher sollen diese Aufzeichnungen veröffentlicht werden. So erzählt die ehemalige IRA-Kämpferin Dolours Price (Maxine Peake), was dann in Rückblende zu sehen ist: wie sie als junge Frau zum bewaffneten Kampf kam; von ihrer Jugend in Westbelfast, wo ihre Familie als Katholiken diskriminiert wurden, wie sie und ihre Schwester erst an gewaltfreie Proteste glaubten und sich radikalisierten, nachdem die Polizei sie bei einer Demo in einen Hinterhalt gelockt hatte.

Doch die junge Dolours (Lola Petticrew) und ihre Schwester Marian (Hazel Doupe) wollen nicht nur Tee kochen und Wunden der Männer versorgen, sondern selbst ganz vorne mitmischen beim »Fundraising«, den Raubüberfällen, die Geld in die Kriegskasse bringen. Sie gehören zu den ersten Frauen überhaupt, die den Eid auf den bewaffneten Kampf schwören. Als Nonnen verkleidet räumen sie bereits wenig später eine Bankfiliale leer. Sie lernen Brendan Hughes (Anthony Boyle) kennen, eine der Schlüsselfiguren der IRA, auch er gibt drei Dekaden später seine Sicht der Dinge zu Protokoll (als älterer Mann gespielt von Tom Vaughan-Lawlor). Und sie treffen Gerry Adams (Josh Finan), den späteren Sinn-Féin-Präsidenten, der hier als großer Strippenzieher der IRA porträtiert wird. Adams bestreitet bis heute, jemals aktives Mitglied gewesen zu sein. Das steht so auch am Ende jeder einzelnen Folge, selbst wenn die Belege der präzisen Recherche Keefes erdrückend sind.

So engagiert Dolours in diesen Jahren ist, beim Waffenschmuggel über die Grenze, bei Bombenattentaten in London oder einem Hungerstreik im Gefängnis, so ernüchtert ist sie im Interview. Auf die Frage des Interviewers zur Entführung der Witwe 1972, antwortet sie zunächst ausweichend. Ihr ganzes Leben habe sie geglaubt, der IRA beizutreten sei ein nobler Akt, weil ihr eingetrichtert wurde, man kämpfe gemeinsam im Namen des Volkes für ein freies und vereintes Irland. »Die Leute sollten wissen, dass es alles Lügen sind.«

Die von Joshua Zetumer kreierte und Michael Lennox (»Derry Girls«) inszenierte Serie fächert so im Laufe der neun Episoden einen jahrzehntelangen Ausnahmezustand auf und fesselt nicht nur, weil sie ein Kapitel jüngerer europäischer Geschichte nachvollziehbar macht, sondern auch, weil sie den Zuschauer dazu bringt, die eigene Haltung in einer gespaltenen und von Aktivismus geprägten Gesellschaft zu hinterfragen.

OV-Trailer

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