Wiederkehr der Visionen
In einem Land, das über keine eigene Küste verfügt, muss die Sehnsucht nach dem Meer besonders groß sein. Mit ihm verbinden sich Weite und Offenheit, es ist ein Anderswo, das ans Unendliche grenzt. Es nimmt nicht wunder, wenn diese Ferne eine kardinale Rolle spielt in den Filmen, die der Tscheche Frantisek Vlácil in den 1960er Jahren drehte.
Wenn man sie heute wiedersieht, könnte man beinahe vergessen, dass damals ein Eiserner Vorhang durch Europa ging. Allerdings sind sie meist in der Vergangenheit angesiedelt, rekonstruieren in Kostümen, Dekors und Sitten historische Epochen, die vom Mittelalter über die Gegenreformation bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs reichen. Sein Langfilmdebüt »Die weiße Taube« jedoch spielt in der Gegenwart des Jahres 1960. Darin werden zu Beginn in Belgien Hunderte von Brieftauben aus Käfigen befreit, damit sie ihrer Bestimmung entgegen fliegen. Eine kommt vom Wege ab, macht Zwischenstation in Prag, wo ein kleiner Junge mit seinem Luftgewehr auf sie schießt. Verzweifelt wartet ihre Empfängerin, Susanne, an einem Ostseestrand auf sie. Im Film wird dieser Zielort als Fehmarn deklariert. Natürlich konnte Vlacil nicht in Schleswig Holstein drehen, vielmehr fungiert die Küste bei Stralsund als Double für die Insel. Hüben wie drüben wird flott Plattdeutsch gesprochen. Die Sprachen und Kulturen Europas begegnen einander oft in Vlacils Filmen, was diesen eine trotzige Weltläufigkeit verleiht, ein Beharren auf Nachbarschaft. Es sind schwefelhaft befreiende Filme.
Ab Mittwoch (4. 9.) würdigt das Kino Krokodil im Prenzlauer Berg den Regisseur, der in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte. Dies Kino, das sich mit bewundernswerter Ausdauer um die Sichtbarkeit des ost- und mitteleuropäischen Kinos verdient macht, ist genau der richtige Ort für die kleine Retrospektiv. Kuratiert hat sie Ralph Eue, der auf der Seite des Krokodil einen schönen Essay veröffentlicht hat (https://kino-krokodil.de/aktuelles/der-tschechische-regisseur-frantisek-vlacil-nach-dem-alten-jenseits-des-neuen/), der lebhaft in Vlácils Werk und traurig bewegte Vita einführt. Bis zum 12. September ist hier ein Solitär des tschechischen Kinos zu entdecken. Ein großer Unbekannter ist er nach wie vor, obwohl er bereits früh Preise in Venedig und anderswo gewann (namentlich für »Die weiße Taube«) und die tschechischen Filmkritiker "Marketa Lazarová" von 1967 bei einer Umfrage 1998 zum besten Film dieser Kinematographie wählten. Bei uns kam das Meisterwerk erst mit einer Verspätung von einem halben Jahrhundert im Kino und auf Blu-ray heraus, dank der Trüffelschweine von "Bildstörung" (siehe Eintrag „Ohne Verfallsdatum“ vom 1. 12, 2016).
In seinem Essay zitiert Ralph ein Selbstzeugnis des Regisseurs, das aus den frühen 199oer Jahren stammt, als das Festival von Bergamo ihm eine Retro ausrichtete: Er sei der "einzige Amateur des tschechischen Kinos". Das sollte man nicht als eine Koketterie verstehen – einer, der so wuchtige und von den Regimes unerwünschte Filme gedreht hat, wird über ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein verfügt haben -, sondern in der französischen Begrifflichkeit des Liebhabers. Das Filmemachen hat Vlácil sich gewissermaßen selbst beigebracht, mit Wissenschaftsfilmen und während seines Wehrdienstes (Ralph hebt besonders die kurzen Armeefilme hervor, von denen er drei zeigt; voller Erstaunen darüber, "was er sich getraut hat, und was man ihn hat machen lassen".) Die staatliche Filmhochschule FAMU besuchte er nie, sondern studierte Kunstgeschichte – was man seinem Werk unbedingt ansieht. Nachdem mich „Marketa Lazarová“ in den Bann geschlagen hatte, konnte ich dank der fabelhaften DVD-Editionen des britischen Labels "Second Run" weitere seiner Arbeiten entdecken, darunter den Nachfolger »Das Tal der Bienen«, der mangels einer vernünftigen Kopie in der Filmreihe fehlt; was umso bedauerlicher ist, weil er die eindrücklichsten Strandszenen in seinem Oeuvre enthält (gedreht in Polen) und darüber hinaus die Meeresbrandung als Verlockung auf der Tonspur erklingt.
Vlácil war eine Generation älter als die Protagonisten der tschechischen „Neuen Welle“, von denen er offenbar sehr geschätzt wurde. Er war nie Teil der Bewegung, obwohl es Überschneidungen in Besetzungen und Teams gab. Vielleicht betrachteten sie ihn als einen unverwandten Wegbereiter: Seine Filme wirkten visionär und entrückt. Sie hatten eine andere Energie als der abgründig lächelnde Humanismus von Véra Chytilová, Milos Forman, Jaromil Jires., Karel Kachyna und Co., die den sozialistischen Alltag satirisch eskalieren ließen. Andreas Rauscher hat vor einigen Jahren sehr zugeneigt und aufschlussreich über diese Welle geschrieben (https://www.epd-film.de/themen/nova-vlna-avantgarde-und-alltag); nicht zuletzt über die Probleme, die sie nach Ende des Prager Frühlings zu gewärtigen hatte. Diese allerdings musste Vlácil in der Zeit der „Normalisierung“ mit ihnen teilen.
Die Kinderfilme, die er ab den 1970ern noch realisieren konnte, waren ihm gleichwohl wichtig. Womöglich knüpfte er in ihnen an „Die weiße Taube“ an, wo bald der kleine Michal im Mittelpunkt steht, der nach einem Sturz im Rollstuhl sitzt. Die Pflege der angeschossenen Taube geht einher mit seinem eigenen Heilungsprozess: Er muss den Wunsch entwickeln, wieder zu gehen. Ein Künstler aus der Nachbarschaft begleitet ihn dabei. Diese Befreiungssymbolik mag ein wenig holzschnittartig anmuten, aber bei Vlácil sind die Metaphern stets kinetisch belastbar und erzählerisch schlüssig. Das Wohnhaus ist ein Ort voller Gitter, den sich die Kamera in kühnen Vertikalen erschließt. Die Einstellungen des Innenhofs, der wie ein Schacht wirkt, sind atemberaubend. Diese Gegenatmosphäre zur Horizontalen des Ostseestrandes ist indes durchaus gebrochen dank der expressiven Kunstwerke des freundlichen Nachbarn.
Der Eindruck, hier sei kein Realist, sondern ein Poet am Werk, verstärkt sich den weiteren Filmen. „Die Teufelsfalle“ eröffnet 1961 Vlácils historische Trilogie. Drei Autoritäten rivalisieren miteinander, ein Regent, ein Abgesandter der Inquisition und ein Müller, über den es heißt, er sei mit dem Teufel im Bunde. Tatsächlich ist er ein Naturwissenschaftler im Wortsinne, der die Wege des Wassers erforscht. Vlácil versenkt seinen Blick in eine sittlich und politisch eingehegte Welt, die einerseits die gleiche haptische Konkretion besitzt wie sein Langfilmdebüt. Einmal trennt eine Mauer das Liebespaar, das einander nicht sieht, aber spürt, was der Wurf eines Kranzes besiegelt. Dank der Forschungen des Müllers findet eine gleichsam unterirdische Entgrenzung der bigotten Enge statt, die am Schluss in einer Neuentdeckung der Welt kulminiert. Zugleich jedoch experimentiert Vlácil mit einer irrealen Tondramaturgie, bei der sich Sphärenklänge und Stimmen aus dem Off vermischen. Der Ton wird zusehends subjektiver, die Stimmen kommen geradewegs aus dem Unterbewusstsein des Films. In „Das Tal der Bienen“ wird Vlácil seine Experimente mit suggestivem Sounddesign fortsetzen. Derweil entfesselt er auch die Kamera. Die blitzschnelle, zielstrebig raumgreifende Heranfahrt (heute würde man so etwas mit Drohnen filmen) wird zu einer Stilfigur, die er von Film zu Film behände variiert. Er dynamisiert den filmischen Raum auf unnachahmliche Weise, dekliniert ihn durch als Spielfeld von Weite, Dominanz und Verlorenheit. Selbst nachdem ihm ab „Marketa Lazerová“ nun das Breitwandformat zur Verfügung steht, nutzt er weiterhin die Vertikale, den schwindelnden Blick in tiefe Gruben, in die Untergründe des Daseins.
In ihrer poetischen Konkretion leisten Vlácils Historienfilme Widerstand gegen eine repressive Gegenwart. Er filmt die Vergangenheit, im Präsenz, heutig, unmittelbar. Was er in ihr entdeckt, besitzt für ihn ungeheure Relevanz. „Adelheid“ (1969, sein erster Farbfilm) handelt von einer Liebe, die die ideologischen Mauern der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht überwinden kann. Dogmatismus, politische wie religiöse Intoleranz sind diesem Regisseur unerträglich, aber er weigert sich, seinen Figuren die Ambivalenz zu rauben. Nicht einmal die Angehörigen des Deutschritterordens, deren Hochmut in „Das Tal der Bienen“ blutig mit der Lebenswirklichkeit des Landes kollidiert, mag er ganz verdammen. Ihr Keuschheitsgelübde gebiert namenlose Leidenschaften, aber ihre Fürsorge, ihr Zusammenhalt könnten aufrichtig sein. Wer Eindeutigkeit und Manichäismus sucht, ist bei diesem Visionär an der falschen Adresse. Als Ralph das Projekt einer Retrospektive einschlägigen Institutionen in Berlin anbot, stieß er auf massiven Gegenwind. Das Kino Krokodil muss es ohne Förderung, ohne Drittmittel, realisieren. Eine Ablehnung zitierte er mir gestern am Telefon: Vlácil sei „nicht anschlussfähig an gegenwärtige Diskurse.“ Ich nehme das mal als ein Kompliment für den Filmemacher.
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