Die Gesten des Mittelmeers
Das Spiel der Hände ist in Luchino Viscontis Filmen stets ausdrucksvoll. In ihm offenbart sich eine wehmütige Lebenssehnsucht. Seine Figuren versuchen, in der Berührung Intimität und Erlösung zu finden. Zu Beginn der Ballsequenz aus »Der Leopard« ergreift der Fürst von Salina zur Begrüßung mit beiden Händen die Hand Angelicas, der Verlobten seines Lieblingsneffen Tancredi und lässt die eine lange auf ihrem Handrücken ruhen. Die Geste besiegelt, fast wie eine Segnung, ihren Eintritt in seine Familie und die Kreise der sizilianischen Aristokratie.
Später am Abend wird der Patriarch sein Gesicht an ihre Handfläche pressen, als wolle er seine eigene, schwindende Lebenskraft auf sie übertragen und im Gegenzug etwas von ihrem jugendlichen Elan erbeuten. Er nimmt Abschied von seiner vertrauten Welt und überlässt die Zukunft der folgenden Generation. Angelica, die den Fürst für diesen Abend verjüngt, ist eine von Claudia Cardinales Glanzrollen. Selbstverständlich fehlt Viscontis Film nicht in der Reihe, mit der das Berliner Arsenal die Schauspielerin vom 2. Mai an feiert. Seit Jahrzehnten identifizieren Zuschauer und Zuschauerinnen sie weltweit vor allem mit dieser Rolle, die vor Prunk und Romantik zu bersten scheint. Diesem Glanz ziehen sie und ihr Regisseur freilich einen doppelten Boden ein. Angelica ist die Tochter des parvenühaften Bürgermeisters, von dem Saline wenig hält. Würden sie die Zeiten nicht so rasch ändern, wäre die sich anbahnende Ehe unstandesgemäß. Angelica setzt sich temperamentvoll über die sittlichen Konventionen hinweg, lacht während eines Banketts so lauthals, dass fast ein Skandal ausbricht. Sie umwirbt Tancredi (Alain Delon) so offensiv, wie er es seinerseits tut. Ihr Charme schützt die junge, unerfahrene Frau wie eine Rüstung. Ihre Gebärden überschreiten sacht, aber immer kühner die Grenzen der Schicklichkeit. Einmal berührt sie mit dezenter Wollust – vielleicht noch unbegriffen, aber schon nicht mehr arglos - ihre Lippen. Allmählich erzählen Visconti und Cardinale aber auch die Geschichte einer Entzauberung. Schon während des großen Balls spürt Angelica eine schleichende Skepsis gegenüber Tancredis Küssen und dem bevorstehenden Glück.
Mit Claudia Cardinale gelangt eine Vieldeutigkeit ins italienische Starkino, die sie von der jeweiligen Persona Sophia Lorens oder Gina Lollobrigidas absetzt. Sie zieht die Blicke auf sich (der des Fürsten Salina ist gewiss nicht nur väterlich), aber ihre Aura erschöpft sich nicht im Erotischen. Sie erweist sich als ein widerspenstiges Phantasiegebilde. Ihr Lächeln mag strahlend, betörend und aufmunternd sein. Aber es wäre ein Fehler, die Strenge zu übersehen, die auch in den Zügen ihres Gesichts liegen kann. Schon in ihren frühen Filmen, die Kurator Hans-Joachim Fetzer bewährt kenntnisreich ausgewählt hat, ist in ihrem Spiel ist insgeheim immer ein mutiger, geistreicher Widerstand dagegen zu spüren, nur ein glamouröses Objekt zu sein. Bald ist sie eine Meisterin des Vorbehalts. Der Liebe trauen ihre Charaktere nur, so lange sie die eigene Freiheit nicht antastet. Die Titelheldin des Eröffnungsfilms »Das Mädchen mit dem leichten Gepäck« ist sprunghaft und schillernd, innige Zuneigung kann sich im nächsten Moment schon in wehmütige Abwehr verwandeln.
Angesichts des frühen Ruhms hat sie, das ist nicht die geringste Leistung ihrer Karriere, immer einen kühlen Kopf bewahrt. Bei einem Schönheitswettbewerb in Tunis gewinnt sie eine Einladung zum Festival in Venedig. Sie studiert am Centro sperimentale in Rom. Für »Diebe haben's schwer« muss 1958 ihre Stimme noch nachsynchronisiert werden, weil sie zu rau und heiser klingt. Ihre Unschuld ist kompliziert - selbst in dem magischen, verheißungsvollen Moment als sie Marcello Mastroianni in »Achteinhalb« zum ersten Mal einen Becher mit Wasser aus der Thermalquelle reicht. Cardinale tritt in den Film wie eine leuchtende Erscheinung hinein, sie eilt beschwingt auf die Kamera zu als ein Sinnbild der Lebensbejahung, die unberührt ist von der Dekadenz und Blasiertheit des Publikums an dem mondänen Kurort. "Sie gibt einem das sichere Gefühl", sagte Federico Fellini über seinen Star, "dass dieses Mädchen die Lösung für alles bedeuten könnte." Anders gesagt: Sie hat dringend in »La Dolce Vita« gefehlt. Aber diese Schauspielerin bringt Männer zum Träumen, ohne fügsam in diesen Träumen aufzugehen.
Ihren Memoiren "Mes étolies" darf man getrost trauen, wenn sie schildert, wie sie anfangs mit jedem Film dazulernt. Jeder Regisseur legt die Messlatte ein wenig höher. Einige von ihnen werden zu Gefährten fürs Leben, bis zu deren Tod: Valerio Zurlini, der ihr 1961 ihre erste große Rolle mit vollends ausgearbeitetem Relief gibt in »Das Mädchen mit dem leichten Gepäck« und Mauro Bolognini. Er entdeckt eine ungekannte Seite an, die Gabe zur Feindseligkeit. Bei ihm spielt sie plötzlich Frauen, die so "gefährlich und kastrierend wie Gottesanbeterinnen" (CC) sind. In »Bel Antonio« (1960) soll Marcello sie auf Geheiß der Eltern heiraten (ein gutes Geschäft für beide Familien), und er verliebt sich tatsächlich in sie, lange bevor er ihr überhaupt begegnet. Auf einem Foto erblickt er einen Engel in ihr. Es heißt von ihr, sie sei rein wie Quellwasser (das hat Fellini bestimmt nicht vergessen). Allein, der schöne Antonio ist impotent und kann die Ehe mit ihr nicht vollziehen. Die sizilianische Gesellschaft wirkt tief in die intimsten Beziehungen hinein, die Ehe wird annulliert. Rasch haben sie und die Eltern die Witterung eines größeren Vermögens aufgenommen. Der Blickwechsel zwischen ihr, der Neuvermählten, und dem verlassenen Marcello zerreißt einem das Herz. Ganz fremd wird sie einem in ihrer fremdbestimmten Härte. Auch in »Das Haus in der Via Roma« im Jahr darauf ist sie als Prostituierte lange Zeit ein Inbegriff kalter Abweisung. Die Rolle hat sie mit Hilfe des Kostümbildners Piero Tosi entwickelt. Beinahe genügen ihnen schon ihre gestreiften Strümpfe, um die Figur zu zeichnen. Viele Zuschauer, schreibt sie in ihren Memoiren, erinnern sich noch Jahrzehnte später an sie. Ihr Partner Jean-Paul Belmondo wird, ebenso wie Delon, ein Freund fürs Leben. In „Cartouche, der Bandit“ begegnen sie sich unter ganz anderen Vorzeichen. Dank Philippe de Brocas flott-wehmütigem Mantel&Degen-Stück adoptiert nun auch das französische Publikum sie.
Zu den kostbaren Ausgraben der Reihe gehören zwei Arbeiten mit dem unterschätzten Regisseur Francesco Maselli, der ein sicheres Gespür für die richtigen Talente vor und hinter der Kamera hatte.. Beide profitieren enorm von der kontrastreichen Fotografie Gianni di Venanzo und der widerspenstig stimmungsvollen Musik Giovanni Fuscos. »I delfini« (Gefährliche Nächte, 1960) ist einer der besten Ensemblefilme, die das Erzählmodell von Fellinis „Die Müßiggänger“ aufgreifen: als Porträts einer trägen Provinzjugend, die vergeblich vom Anderswo träumt. In diesem tristen erotischen Reigen ist sie eine zunächst brave Randfigur, die Zutritt erlangt zu den exklusiven Zirkeln der mondän-verworfenen Gesellschaft. Da wirkt sie, ebenso wie vier Jahre später in »Gli Indifferenti« (Die Gleichgültigen, nach dem Roman von Alberto Moravia, der auch an »I Delfini« mitschrieb), opportunistisch in ihrer Glückssuche, aber ist eigensinnig in ihrer Melancholie. Eigentlich wäre der Arzt Sergio Fantoni die vernünftigere romantische Wahl, aber sie hat den reichen Erben Tomas Milian ins Auge gefasst. Bei den Treffen der Delfini im Stammcafé schweigt sie resigniert, aber es spricht Bände, wie sich an ihn schmiegt und die Hand auf seine Schulter legt, halb anzüglich, aber vollends besitzergreifend.
Schade, dass im Arsenal kein Film von ihrem zweiten Ehemann Pasquale Squitieri läuft. Ihre Arbeitsbeziehung beginnt 1975 mit »I guappi« (Die Rache der Camorra), der im Kern eine Dreiecksgeschichte (zwischen ihr, Fabio Testi und Franco Nero) erzählt, in der sich die Eifersucht als ein Irrtum erweist. Das ist möglich mit ihr, sie kann eine gute Kameradin sein. Ihren Gebärden eignet meditterane Weisheit: nachdenklich und entschieden, ergriffen und von bezwingender Selbstverständlichkeit. Fast scheint es möglich, dass die Männer den misogynen Ehrenkodex der Camorra überwinden. Aber ich schweife ab. Eigentlich genügt es, über die Filme zu schreiben, die in Berlin laufen. Demnächst mehr.
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