Lyrische Authentizität
Recht früh in »Killers of the Flower Moon« gibt es eine jener für Martin Scorsese typischen Kamerafahrten, deren raumgreifende Akrobatik jedes Hindernis überwindet. Es ist keine narzisstische Besitznahme des Raums wie etwa zu Beginn von »Goodfellas«, sondern die Erkundung eines Lebensraums.
Die Kamera eilt durch lauter Räume, in denen sich der Alltag der Familie Burkhardt zuträgt, durch Flure, die Küche, den Salon etc. Prunkend ist die Plansequenz gleichwohl, denn sie führt stolz das Szenenbild von Jack Fisk vor. Seit mehr als 50 Jahren ist er einer der großen, prägenden Production Designer in Hollywood. Man könnte sagen, er ist einer der unbesungenen Helden des Filmgeschäfts (bislang nur zwei Oscarnominierungen, man glaubt es kaum), aber das ändert sich gerade. Die "New York Times" würdigte ihn gerade mit einem long read in einer Wochenendbeilage. Man liest eine Dreiviertelstunde daran, und allein wegen der Lektüre lohnt sich das günstige Online-Jahresabo schon. Ich habe jedenfalls ungeheuer viel über den Szenenbildner und seinen Beruf erfahren. Dabei beschäftigt mich die Arbeit dieses Mannes, der aussieht wie ein Sohn von L.Q. Jones (aber einer mit klarem Verstand), schon seit Jahrzehnten. Eine Arbeit, die gesehen, aber nicht bemerkt werden soll, wie es in dem Artikel heißt.
Ein Aspekt dieser chronischen Dualität in der Wahrnehmung betrifft die obere Etage des Burkhardtschen Hauses. Während das Erdgeschoss repräsentativen Zwecken dient, ist das darüber liegende ganz schlicht gehalten. Dort liegt das Schlafzimmer von Mollie und Ernest, das in schmucklosen, grasgrün angemalten Holzwänden ausgeführt ist. Dieses Haus, erzählt uns Fisk, wurde erst unlängst gebaut. Um die weitere Einrichtung hat man sich noch nicht viel Gedanken gemacht. Das unterstreicht auch der Schuppen, der daneben errichtet wurde. Dazwischen parkt die Limousine der reich gewordenen Indianerfamilie: Auf die Idee, eine Garage zu bauen, ist auch noch niemand gekommen.
Warum haben die Zwei, Scorsese und er, nur so lange gebraucht, um zueinander zu finden? Immerhin haben beide etwa zur selben Zeit im Kino begonnen, beim Anbruch des New Hollywood, und haben sich bei Roger Corman erste professionelle Sporen verdient. Ursprünglich wollte er Maler und Bildhauer werden. Einer seiner Kommilitonen war David Lynch, mit dem er sich bald ein Haus teilte und der zeitweilig mit seiner Schwester verheiratet war. Ihm folgte er an die Westküste und ins Filmgeschäft. Art Director wurde er, wie er der "New York Times" erzählt, weil er der einzige am Set war, der einen Werkzeugkasten hatte. Die Anfangsjahre waren für ihn eine Schule der Vielseitigkeit, er wirkte an Blaxploitationfilmen mit und gestaltete die Szenenbilder für Brian de Palmas Horrorfilm »Carrie«. Zu diesen Suchbewegungen gehörte auch »Vigilante Force«, bereits ein Drama über eine Welle der Gewalt, die nach einem Ölfund in einer Kleinstadt losbricht (dem Trailer nach zu urteilen sieht das aber ganz anders aus als heute bei Scorsese – Fisk wiederholt sich nicht gern) sowie ein Film, bei dem er etwas machte, was er seither nie wieder tat: »Movie Movie«, Stanley Donens Parodie auf Genrefilme der 30er/40er entstand 1978 praktisch komplett im Studio. Da wäre der Sprung zu »New York, New York« also nicht groß gewesen. Andererseits kann man Scorsese nicht verdenken, dass er damals die Gelegenheit nutzte, mit dem legendären Szenenbildner Boris Leven zu arbeiten. Eine ganze Zeit später hätten sich ihre Wege bei »Gangs of New York« kreuzen können, wo es um die Rekonstruktion einer fernen Epoche ging – immerhin eine Spezialität von Fisk. Aber Dante Ferretti hatte für Scorsese bereits in »Age of Innocence« überzeugend das historische New York wieder auferstehen lassen, da blieb der Regisseur dem italienischen Meister eben treu. Ferretti sollte ursprünglich auch die Dekors von »Killers of the Flower Moon« entwerfen, aber Scorsese spürte rasch, dass er hierfür einen Experten für Americana brauchte. Und dass er genau dies ist, hat Fisk von »Badlands« über »The Straight Story« bis »There will be blood« eindrücklich beweisen: Er findet jene lyrische Authentizität, die zwischen Folklore und Realität liegt. Wahrscheinlich hat kein anderer Production Designer so häufig mit Holz gearbeitet wie er. Nur mit Terrence Malick hat er bisher Filme gedreht, die außerhalb der USA spielen (»The Thin Red Line«, »To the Wonder«). Da Fisk zugleich ein Flair für amerikanische Urbanität (kleinstädtisch in »The Tree of Life«, großstädtisch in »Knight of Cups«) besitzt, empfahl er sich für die Rekonstruktion der Boomtown in Oklahoma.
Zum ersten Mal fiel mir 1978 sein Name bei »Days of Heaven« (In der Glut des Südens) auf. Vor allem stach mir natürlich das mehrstöckige Herrenhaus im viktorianischen Stil ins Auge, das allein inmitten eines Meeres von Weizenfeldern steht. Wie ich später las, war das tatsächlich eine Metapher, die er und Malick im Sinn hatten: Das Haus sollte wirken wie ein Schiff auf dem Ozean. Der Produzent hatte sich eine schlichte Baracke oder Ranch vorgestellt. Aber Fisk errichtete die stolze, wundersam deplatzierte Villa in nur einem Monat - die Weizenernte stand in wenigen Wochen an. Ich war seinerzeit fest davon überzeugt, er hab dafür an Rock Hudsons Ranch in »Giganten« Maß genommen, aber da lag ich halbwegs falsch. Die tatsächliche Inspiration war Edward Hoppers »Haus am Bahndamm«, das wiederum als Vorbild für »Giganten« und die Bates-Villa in »Psycho« diente. Ganz falsch war meine Spur nicht, denn die Handlung von »Days of Heaven« spielt nicht unweit von Marfa in Texas, dem Drehort von »Giganten« und später auch »There will be blood«. Den Einfluss Hoppers spürte ich auch in Fisks nächstem Film, »Heartbeat« (Herzschlag., 1980) von John Byrum, einer Dreiecksgeschichte um den Beat-Schriftsteller Jack Kerouac.
Danach verlor ich ihn aus den Augen. Kunststück, Fisk arbeitete fast zwei Jahrzehnte lang nicht mehr in seinem Beruf! Er führte stattdessen ein wenig Regie und kümmerte sich um die Kinder und die Ranch in Virginia, während seine Frau Sissy Spacek arbeitete. In sie hatte er sich bei den Dreharbeiten zu Malicks Debüt »Badlands« verliebt. Seither sind sie unzertrennlich. Sie spielt nicht nicht nur in zahlreichen Filmen (»Carrie«, »Heartbeat«, »The Straight Story«) mit, die er gestaltet hat, sondern auch in seinen ersten zwei Regiearbeiten, von denen ich »Raggedy Man« in vage guter Erinnerung habe. Bei „Phantom of the Paradise“, seinem ersten Film mit de Palma, hat sie angeblich ausgeholfen im Art Department und die Klappe geschlagen. Die Ehen zwischen Schauspielerinnen und Szenenbildnern können langlebig sein, man denke nur an Aurore Clément und Dean Tavoularis, die sich bei »Apocalypse Now« kennenlernten.
Erst 1998 kehrte Fisk mit Terrence Malick wieder zum Kino zurück. Das Pazifikkriegsepos »The Thin Red Line« (Der schmale Grat) stand unter ganz anderen Vorzeichen als ihre vorherigen Zusammenarbeiten. Fisk musste zuerst authentische Kriegsschiffe und Truppentransporter aus der Zeit finden. An den Drehorten in Australien und Guadalcanal, wo sich seit den 1940ern wenig verändert hatte, musste er nur wenig Architektur entwerfen, namentlich ein Dorf zwischen Strand und Dschungel, das laut seinem Audiokommentar vor allem von den einheimischen Frauen errichtet wurde, während die Männer sich faul zurücklehnten und Betelnüsse kauten. In einer Szene schaut Jim Caviezel zu, wie so ein traditionelles Dorf entsteht. Den Kriegsschauplatz hatte er akribisch recherchiert. So fand er beispielsweise heraus, dass die Handgranaten dort nicht marinegrün, sondern gelb angemalt waren. Vor allem war er als Landschaftsarchitekt gefordert, musste Gräser düngen und weitere anbauen für die Sequenz, in der die US-Truppen den Hügel einnehmen müssen.
Dieses Primat des Pastoralen setzt sich in 2005 »The New World« fort. Das war der Film, bei dem mir endgültig klar wurde, dass Malick seine Filme aus der Perspektive der Natur dreht, des Wassers, des Windes, der Bäume, der Vegetation überhaupt. Das Auftreten der Menschen ist dementsprechend ein Schock. Der Film spielt zu Beginn des 17. Jahrhunderts und handelt von der historischen Begegnung der Häuptlingstochter Pocahontas und dem englischen Kolonisten John Smith. Hier zeigt Fisk zum ersten Mal, gleichsam als Vorspiel zu »Killers of the Flower Moon«, wie geräumig und hoch die Zelte der Indianer gewesen sein müssen, damit in ihnen die traditionellen Stammesriten zelebriert werden konnten. Bei der Rekonstruktion von Jamestown verließ sich Fisk nicht allein auf historische Zeugnisse, sondern auf seine Intuition. Auf zeitgenössischen Darstellungen waren die Gebäude abgerundet und die Palisaden der Befestigung bestanden aus glatt gesägten Pfeilern. Die Siedler, räsonierte der Production Designer, waren nach der langen Seereise doch bestimmt viel zu erschöpft, um die Bäume zu bearbeiten. Die Siedlung musste ganz schnell entstehen. Also wich er von der romantisierten, offiziellen Darstellung ab. Die Siedlung ist roh gebaut, die Häuser und Befestigungsanlagen sind aus unbearbeiteten Baumstämmen gezimmert.
In seinen historischen Filmen rekonstruiert Fisk also zugleich auch eine Lebensweise. Er musste beispielsweise auch das alte Saatgut wiederfinden, das die Indianer damals auf ihren Mais- und Tabakplantagen ausbrachten. Ihn faszinieren die praktischen Probleme, vor denen die Figuren in der Vergangenheit standen. Die Architektur ist oft erst im Entstehen begriffen. In Jamestown ist mitunter das Innere der Häuser zwar schon verputzt, aber sie sind nicht für die Ewigkeit gebaut, sondern wurden improvisiert. Die Dächer sind oft nur mit Stroh bedeckt. Zur Vorläufigkeit gehört auch, dass diese Bauten, wie so viele seit „Badlands“, später in Flammen aufgehen. Im zweiten Teil von »The New World«, der in England spielt, gibt es zum Pastoral ein szenographisches Gegengewicht. Da künden die Paläste und Landhäuser von einer Sesshaftigkeit, die sich stolz auf langte feudale Traditionen beruft. Der Anblick der ersten Steinhäuser im Hafen ist ein veritabler Kulturschock.
In »The Revenant« geht Fisk 2015 noch weiter zurück, nicht historisch, sondern zivilisatorisch. Zuerst denkt man, seine Aufgabe habe nur darin bestanden, die passenden Wälder und Flüsse zu finden. Alejandro González Innáritus Film gibt sich vollends der Wildnis hin, noch abgründiger, blutrünstiger und elementarer als Malick. (von dem er allerdings den Blick in die Baumwipfel abgeschaut, immerhin holt er sich seinen Kameramann Emmanuel Lubezki zurück, der zuvor »The Tree of Life« für den Amerikaner fotografiert hat). Für Fisk stellt sich hier die philosophische Frage, ab wann von einer Behausung gesprochen werden kann. Vielleicht es das ja schon das Innere des Pferdes, das Leonardo die Caprio ausgenommen hat, um sich vor dem Schnee zu schützen. Die Indianer und Trapper hausen in Vorstufen von Zelten - ein paar Äste und eine Tierhaut müssen genügen, um ihnen Schutz zu bieten vor den feindseligen Elementen. Erst nach anderthalb Stunden ist ein erstes Holzhaus zu sehen, auch das noch ganz roh gebaut. Allmählich kehrt der Film in die weiße Zivilisation zurück, im Fort Kiowa sind die Innenwände der Blockhütten zum Teil schon verfugt und relativ eben. Das sind nur Etappen; um ein Zuhause geht es dabei noch nicht, lediglich um ein Provisorium.
Ein guter Zeitpunkt, um für heute aufzuhören. Im nächsten Eintrag erzähle ich, wie Fisk die amerikanische Zivilisation in seinen weiteren Filmen in Szene setzt.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns