Kritik zu Die toten Vögel sind oben

© Real Fiction Filmverleih

2022
Original-Titel: 
Die toten Vögel sind oben
Filmstart in Deutschland: 
31.08.2023
L: 
83 Min
FSK: 
Ohne Angabe
S (OV): 

Die Regisseurin begibt sich im vergessenen Nachlass des Urgroßvaters auf die forensische wie faszinierende Spurensuche eines unangepasstes Lebens 

Bewertung: 4
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Jürgen Friedrich Mahrt wird 1882 im deutschen Norden geboren. Er ist ein intelligenter und begabter Schüler, kann die weiterführende Schule trotzdem nicht besuchen, da er den landwirtschaftlichen Betrieb des Vaters übernehmen muss. Schon als junger Bauer verkauft Mahrt aber – für die damalige Zeit skandalös – ein Stück wertvolles Land, um seine erste Fotokamera zu bezahlen. Im Ersten Weltkrieg wird er zum Fotografen ausgebildet und spricht doch nie über das, was er dort erlebt hat. 1919 übergibt er seinem gerade volljährigen Sohn den Hof und widmet sich fortan ausschließlich seiner ungewöhnlichen Passion.

Mahrts naturkundliche Sammelleidenschaft war obsessiv: Akribisch beobachte, präparierte und fotografierte er vor allem Vögel und Schmetterlinge seiner Region. Er drapierte ausgestopfte Tiere in Dioramen und eröffnete 1928 ein privates Naturkundemuseum auf dem Dachboden. Später dokumentierte er auch das Leben der Menschen in seiner Heimat und wurde so zu einem Konservator der Fauna, Flora und der ökologischen Umbrüche seiner Zeit. Vieles davon – 350 ausgestopfte Vögel und 3 000 Schmetterlinge – verstaubte jahrzehntelang auf dem Dachboden eines Hauses.

Sönje Storm, Mahrts Urenkelin, lässt uns an der Bergung dieses Schatzes teilhaben. Sie beobachtet und begleitet, wie Zoologen die dort schlummernden Doppelschnepfen, Wiedehopfe und Falter begutachten oder Kunsthistoriker*innen Tausende handkolorierte Fotos von Vögeln, Eiern in Nestern, Raupen oder Pilzen katalogisieren. 

Die Faszination der Fachleute steckt an und vermittelt die Bedeutung dieses Erbes für die Gegenwart. Ein Entomologe zeigt anhand eines von Mahrts alten Schmetterlingsbrettern, wie viel der aufgesteckten Arten mittlerweile ausgestorben sind. Fotoserien vom Trockenlegen der Torfmoore deuten die Anfänge des Anthropozäns an. 

Künstlerisch besonders sind aber vor allem seine Vogelfotografien: Sind sie Ergebnisse geduldiger Beobachtung, oder hat Mahrt seine Präparate in die typische Landschaft gestellt? Beides kam vor. Filmisch multipliziert Storm diese Irritation. Zeigt statische Einstellungen, bei denen nie klar ist, ob es sich um das Standbild einer Fotografie von Mahrt selbst handelt oder ob die Regisseurin wiederholt, was der Urgroßvater 100 Jahre zuvor tat, und sich durch einen sacht wiegenden Halm im Hintergrund verrät. Die Tonebene verstärkt dieses Gefühl und verleiht der gleichermaßen forensischen wie poetischen Spurensuche eine Nuance des Unheimlichen. 

Der kleine Kreis derjenigen, die sich sowohl für Fotografiegeschichte als auch für Tierpräparate, Naturkunde und Ornithologie interessieren, wird »Die toten Vögel sind oben« lieben. Alle anderen tauchen in das erstaunliche Leben eines Mannes ein, der sich seiner qua Geburt vorgegebenen Laufbahn still und stoisch widersetzte und tat, was er liebte, ohne sich vor irgendwem zu rechtfertigen. Auch nicht vor seiner Familie, weshalb Storms Fragen unbeantwortet bleiben. Sie lässt vor allem Mahrts Schatz auf dem Dachboden – inzwischen archiviert und in Museumssammlungen aufgenommen – für ihn sprechen. Jürgen Mahrt hätte das sicherlich gefallen.

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