Kinetische Botschaft
Als vor ein paar Wochen die Nominierungen für die BAFTA-Awards bekannt gegeben wurden, glaubte Peter Bradshaw vom "Guardian" noch, seine Leserschaft beschwichtigen zu müssen: Keine Sorge, trotz der 14 Nennungen für »All Quiet on the Western Front« würden die Mitglieder der britischen Filmakademie mit Augenmaß entscheiden. Gestern schreibt er, die sieben Preise, die Edward Bergers Antikriegsfilm am Vorabend gewann, seien wohlverdient.
Das ist kein Wankelmut. Bradshaw schätzte den Film von Anfang an; sein Kommentar zur Nominierungsflut war eher patriotischen Affekten geschuldet. Vor der Erfolgsgeschichte, zu der sich die Netflix-Produktion entwickelt hat, verneigt er sich nun mit britischem Sportsgeist. Der Chefkritiker der Londoner Tageszeitung ist ohnehin kein schlechter Gewährsmann, um dieses Phänomen zu ergründen, das eventuell auch nur ein Missverständnis bedeutet. Stets betont er in seinen Artikeln, welche Aktualität der Neuverfilmung von Remarques »Im Westen nichts Neues« zugewachsen ist. Darin liegt für ihn eine wesentliche Legitimation des Films und auch des Preisregens; seine Kraft verdanke der Film auch seiner handwerklichen Brillanz. Bradshaws Urteil und das eines Gutteils der anglo-amerikanischen Kritik sieht sich übrigens im Widerspruch zu den deutschen Reaktionen, die als weitgehend negativ, ja vernichtend wahrgenommen werden. Anscheinend tut sich hier ein Schisma auf.
Erwarten Sie an dieser Stelle keine Spekulationen darüber, welche Oscar-Perspektiven sich nach dem BAFTA-Triumph (Bester Film, Beste Regie etc.) jetzt eröffnen. Mir ist der Film nicht geheuer. Botschaft und Handwerk gehen mitnichten eine so gedeihliche Allianz ein. Beide Elemente sind Auszeichnungsköder, ohne jedoch in einem zwingenden Zusammenhang zu stehen. Auf der Bild- und Tonebene wirkt Bergers Film ungemein suggestiv: beinahe das immersive Erlebnis, das er sein will. Behände changiert er zwischen subjektiver und "objektiver" Wahrnehmung des Kriegsgeschehens und hat zudem seine genuin lyrischen Momente, auch Parenthesen kameradschaftlicher Wärme (die Briefszene zwischen Felix Kammerer und Albrecht Schuch ist großartig, zumal die Schärfenverlagerung der Kamera am Ende gleich wieder Distanz schafft). Aber sie dienen nicht der Erkenntnis, nur der Auflockerung. Danach soll der Schrecken wieder ins Mark gehen. In dieser Eindringlichkeit jedoch offenbart sich noch kein Unterschied zwischen einem Kriegs- und einem Antikriegsfilm. Als Letzterer gibt sich »Im Westen nichts Neues« vor allem auf einem Umweg zu erkennen, mittels einer flagranten Abweichung von der Romanvorlage und ihren ersten zwei Verfilmungen: in der Paralellmontage zwischen den bedauernswerten Frontschweinen und ihren perfiden Befehlshabern. Die Raison der Obersten Heeresleitung und die Waffenstillstandsverhandlungen im Sonderzug nach Compiègne bleiben bis zur bitteren Schlußvolte des Films szenisch, ja klinisch getrennt vom Leid in den Schützengräben. Die einzige Verbindung sah ich darin, dass die Franzosen an beiden Schauplätzen besser essen und trinken.
Der Film ist erstaunlich erfahrungsarm. Das hat vor allem mit der Figurenzeichnung zu tun. Das Drehbuch treibt ein smartes Spiel. Das Publikum soll hineingeschleudert werden, aber auch Distanz halten. Es darf heutig bleiben, darf insgeheim im Kopf behalten, was im Jahrhundert dazwischen geschah. Aber wie stellt der Film das an? Er sucht blindlings, was er an Schlagworten finden kann. Der Schulleiter, der Paul Bäumer und seine Kameraden eingangs patriotisch einschwört, preist sie als "eiserne Jugend" Deutschlands (fast im Wortlaut des Romans und der ersten Verfilmungen) und nennt sie sodann die "größte Generation". Dieser Begriff kam nach „Der Soldat James Ryan“ in den USA in Mode, gemünzt auf die GIs, die im Zweiten Weltkrieg Europa befreiten. Spielbergs Film etablierte ein neues Paradigma dafür, wie Kriegsrealismus auf der Leinwand aussehen soll. Doch, da hat Berger von ihm gelernt.
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