Transgenre 2
Diese Tendenz kündigt sich bereits in den Namen an, die ich gestern aufzählte: Es sind zunehmend Regisseurinnen, die sich dieses schwierige Terrain erobern. Claire Denis stand 2001 noch allein auf weiter Flur. Ihr „Trouble every day“ gab sich kühn als Kannibalenfilm aus. Ganz zog sie das Vorhaben nicht durch, es war kein Tabu für sie, aber noch nicht abbildbar. Die Figuren bissen noch zu wie Vampire.
Weiter stärker beeindruckte mich 2004 „Innocence“, der erste Langfilm von Hadzihalilovic. Ein Film ohnegleichen. (Ich besorgte mir danach die französische DVD, ich glaube, er ist auch mit englischen UT erschienen; bei uns lief er auf arte.) Er spielt in einem Mädcheninternat, das entlegen in einem Wald liegt und von einer unüberwindbaren Mauer umgrenzt wird , der einzige Zugang ist ein geheimer Tunnel. Der Film lässt uns diesen verwunschenen Ort aus der Perspektive des Neuankömmlings Iris erkunden. Sie wacht in einem Sarg auf, findet sich jedoch von ihren durchaus lebendigen neuen Kameradinnen umringt, die sie, strengen Ritualen folgend, als eine der ihren aufnehmen werden. Sie ist also nicht im Jenseits, aber wahrscheinlich in einem Märchen. Iris wird mit mysteriösen Regeln vertraut gemacht, etwa dem Farbcode der Haarschleifen, in dem sich die Altershierarchie der sechs- bis zwölfjährigen Mädchen manifestiert. Die Mädchen werden auf eine mulmig unbestimmte Außenwelt vorbereitet. Es wird von ihnen erwartet sich so zu benehmen, als existiere sie nicht. Auf dem Lehrplan stehen nur Ballett und Biologie. Unter ihnen herrscht eine verspielte Entdeckerfreude, man vergisst immer wieder, dass man in einem Gruselfilm sitzt. Natürlich traut man der idyllischen Klarheit der Bilder nicht, ebensowenig wie ihren satten, warmen Farben. Der Schrecken entsteht in „Innocence“ aus der Unerbittlichkeit, mit der alles ein Rätsel bleibt. Ein Gefühl furchtsamer Erwartung wird einen bis zum Schluss des Films nicht mehr verlassen, der in einer ebenso unfassbaren Euphorie endet.
In ihrem zweiten Langfilm „Evolution“ (bei uns auf DVD erschienen) greift sie elf Jahre später das Motiv der entrückten Enklave auf, nun eine Küstenlandschaft, die nur von Müttern und Söhnen bevölkert ist. Der Schrecken rührt wiederum aus dem Unerklärten, er wird aber zugleich konkreter und körperlicher. Auf ebenso gleichnishafte, aber doch ganz andere Art wie in „Innoncence“ werden die Ängste spürbar, die mit der Verwandlung der Körper einhergehen. Die Jungen sind etwa gleich alt wie die Insassinnen des Internats, stehen also an der Grenze zur Pubertät. In dem Küstenort scheint die Züchtung eines neuen Geschlechts stattzufinden. Die Jungen müssen eine Diät ekelerregender Algen einhalten und sich absonderlichen Operationen unterziehen. In ihrem Kurzfilm „La Bouche de Jean-Pierre“ (1996) griff Hadzihalilovic das Thema des Kindesmissbrauchs auf, das sie freilich eher atmosphärisch etabliert, als erwartete Bedrohung.
Die Regisseurin, die sonst nur alle zehn Jahre einen Film dreht (und zwischendurch als Cutterin und Produzentin mit Gaspar Noe arbeitete) zieht ihr Tempo an, zwischen „Evolution“ und „Earwig“ liegen nur fünf. Das Klima hat sich verändert, ist ermutigender geworden.Inzwischen haben sich beispielsweise auch Sophie Fillières und Pascale Ferran am Fantastischen versucht. Die Perspektive der Regisseurinnen auf Körperhorror ist nicht nur selbstverständlich, sondern radikal weiblich. Sie finden ihn im Alltäglichen wieder. Die demütigende Untersuchung des Hymens der Protagonistin in „Atlantique“ steht im repressiven Umfeld der streng religiös geprägten Gesellschaft im Senegal. Bei keiner Filmemacherin ist das Grauen jedoch so eng mit dem Heranwachsen verknüpft wie bei Ducournau.
Das mag biographische Gründe haben. Ihre Mutter ist Gynäkologin, ihr Vater Hautarzt. Tatsächlich ist nicht „Crash“, sondern „Dead Ringers“ (Die Unzertrennlichen) ihr Lieblingsfilm von Cronenberg. Was in Interviews mit französischen GenreregisseurInnen auffällt, ist, wie früh sie den prägenden Filmen begegnet sind, meist schon mit sechs, sieben Jahren und nicht mit einem Verbot belegt, sondern vielmehr der Möglichkeit, mit ihnen vertraut zu werden. Apropos: Im Interview mit Patrick Heidmann, das im aktuellen Heft erschienen ist, spricht sie ausführlich über den weiblichen Blick.
Ducournaus Kurzfilm „Junior“ (den man leicht auf Youtibe findet) handelt vom Tumult der Hormone. Justine (Garance Marillier, die auch in den weiteren Filmen diesen Namen trägt) ist ein Tomboy, hängt lieber mit Jungs herum, versteckt sich in dicken Jacken und gibt sich in der Schule ruppig. Eines Tages entdeckt sie, dass merkwürdige Veränderungen in ihrem Körper vorgehen. Ihre Epidermis löst sich ab, sie hinterlässt,einer Schlange gleich, eine Spur von Schleim. Anfangs ist das ein Schock – man sieht, wie ihr Rückgrat frei liegt -, aber sie lernt, damit zu leben. Wenn ich oben von Grauen schrieb, muss ich das nuancieren: „Junior“ erzählt von einer erfreulichen Häutung. Plötzlich erkennt sie niemand mehr wieder, denn sie hat sich in ein hübsches Mädchen verwandelt. Mit der Veränderung schiesst zugleich eine neue Energie durch die Körper.
In „Raw“ (Grave) geht es um Verdauung. Justine wächst in einer Familie von Vegetarierin auf und will Tierärztin werden. An der Uni durchlebt sie die grotesken Initiationsrituale der Bizutage (die in Frankreich eigentlich verboten, in harmloserer Form aber gang und gäbe ist) und entdeckt einen unstillbaren Hunger auf Fleisch. Das ist nun wirklich ein waschechter Kannibalenfilm. Auch diese Justine ist eine Außenseiterin, aber diesmal findet das Monströse ein heimliches Einverständnis (die Komplizin heißt Alexia, wie die Heldin von „Titane“), eine andere Art von Initiation beginnt, ein böser Rausch, der Sex mit ihrem Freund ist eine Raserei, die er nicht mehr aushält. Auch hier spielt ein Verkehrsunfall die Rolle des Auslösers: Die Filme von Ducournau bauen aufeinander auf. Was nicht heißt, dass sie einem festen Plan folgten, es ist vielmehr eine agile Intuition im Spiel.
Der Körperhorror in „Titane“ kommt von außen, er ist hybride. Alexia ist ein Cyborg, wenngleich nicht in dem Sinne, den die Science Fiction ihm gibt. Er ist auch nicht auf den weiblichen Körper beschränkt. Es gibt eine Verwandtschaft der Zumutungen. Das Bodybuilding und der Einsatz von Steroiden, mit denen sich der alternde Feuerwehrhauptmann Vincent Lindon stählt, wirken wie eine selbstauferlegte Buße. Gut, er muss als Alphatier die Vormachtstellung in der Station behaupten, deren muskelbepackte Mannschaft eine ziemlich queere Gemeinde bildet. Gestern bezeichnete ich das Drehbuch als irrsinnig. Das war nicht abschätzig gemeint, aber auch das bedarf der Nuancierung. Es ist nämlich ungemein sorgfältig strukturiert, voller Echos, Symmetrien und Widersprüche. Die beiden Väter (der leibliche und der erschlichene) der Serienmörderin Alexia üben Berufe aus, deren Zweck es ist, Leben zu retten. Der Film ist in konträre Hälften gegliedert, zerfällt aber nicht in sie. Das Motiv des Tanzes etwa ist in beiden Teilen sexualisiert und findet auf Autokarosserien statt, aber im zweiten sind die Choreographien keine Soloperformance, sondern ein Dialog, eine gemeinschaftliche Euphorie. Ein fiebriger Film, echtes Genre- und echtes Autorenkino. Ich bin gespannt, in welchen Horror Ducournaus nächster Film die Körper verstrickt.
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