Film Festival Lorcano
»Hinterland« (2020). © FreibeuterFilm/Amour Fou/SquareOne Entertainment
Im Wettbewerb des Festivals von Locarno dominierten Filme mit spirituellem Einschlag
Nach der pandemiebedingt verkleinerten und hybriden Ausgabe 2020 kehrte das Filmfestival von Locarno in diesem Jahr zur alten Form zurück – natürlich unter Einhaltung der notwendigen Vorsichtsmaßnahmen. Die Pandemie brachte eine ganze Reihe von Einschränkungen mit sich: Alle Tickets mussten vorab gebucht werden, das Schreibzimmer mit Computern, Internetzugang, Druckmöglichkeiten und hilfsbereiten Mitarbeitern (auch ein Ort des Innehaltens) entfiel; zudem blieb die Retrospektive dem italienischen Regisseur Alberto Lattuada gewidmet, ohne begleitende Publikation.
Was ist Locarno, muss man sich – angesichts gewachsener Nebenreihen in den letzten Jahren – schon fragen. Für den Kritiker in erster Linie der internationale Wettbewerb, in dem zahlreiche, heute arrivierte Filmemacher erste internationale Auftritte hatten, für den Präsidenten des Festivals, Marco Solari, wie seinem Abschlussstatement zu entnehmen war, die Piazza Grande, die einen Großteil der Attraktivität für das zahlende Publikum ausmacht (aber auch dem Kritiker unvergessliche Kinoereignisse beschert). Der neue künstlerische Leiter, Giona A. Nazzaro, seit dem vergangenen Herbst, nach der überraschenden Trennung des Festivals von seiner Vorgängerin Lili Hinstin, im Amt, resümierte: »Ich bin überwältigt und sehr zufrieden mit meiner ersten Ausgabe. Die vergebenen Preise spiegeln die Vision des künstlerischen Teams und unseren Wunsch wider, ein freies, integratives und vor allem öffentliches Festival zu schaffen.«
Von den siebzehn Filmen des internationalen Wettbewerbs waren am Ende zehn in der digitalen Library des Festivals verfügbar – leider ohne die Filme einiger bekannter Namen, die von den Weltvertrieben nicht freigegeben wurden, meist, weil sie schon in zahlreiche Territorien verkauft waren.
Unter den zehn Filmen gab es mindestens einen, den ich mir als crowd pleaser auf der Piazza gut hätte vorstellen können, die isländische Actionkomödie »Cop Secret«, die aber im Wettbewerb nichts zu suchen hatte, ebenso wenig wie der spanische »Espiritu Sagrado« von Chema Garcia Ibarra: Was als schräge Komödie um eine Handvoll Ufogläubige beginnt, wirft am Ende Kindesmissbrauch in die Waagschale.
Zumindest fragwürdig war der italienische »I Gigant« von Bonifacio Angius, in dem eine Handvoll Männer mit gemeinsamer Vergangenheit sich bei einem Treffen in einem Landhaus in Drogenkonsum und (Selbst-)Zerfleischung ergehen. Wer seine Vorstellungen von »toxischer Männlichkeit« bestätigt sehen wollte, kam vielleicht auf seine Kosten, ansonsten war Stefan Ruzowitzkys Piazza-Film »Hinterland« die weitaus bessere Auseinandersetzung damit. Für diese Figuren gibt es keine Hoffnung, entsprechend liegen sie am Ende alle tot auf dem Boden.
Ambivalent bleibt das Ende im österreichischen »Luzifer« von Peter Brunner (Produktion: Ulrich Seidl), eine quälerische, einsiedlerische Mutter-Sohn-Beziehung in den Bergen, geprägt vom Glauben und dem Zweifel daran. »Wo ist der Teufel?«, fragt der Sohn immer wieder. Die darstellerische Tour de Force von Franz Rogowski und Susanne Jensen wäre durchaus einen Preis wert gewesen. Der ging an die Hauptdarstellerin des russischen »Gerda« von Natalya Kudryashova: eine junge Frau zwischen Studium und Geldverdienen als Nackttänzerin. Unvergesslich eine Szene, als sie drei sexhungrige Männer in einem Hotelzimmer mit dem Singen eines Liedes auf andere Gedanken bringt. Ob die – hier durch das Schreiten über eine nebelverhangene Wiese – immer wieder beschworene Erlösung sich am Ende materialisiert, blieb in den meisten Filmen offen, im serbischen »Nebesa« von Srdjan Dragojevic, der raffiniert auf drei Zeitebenen erzählt, geht es um Kunst, deren Ansehen satt macht, und um einen plötzlich auftauchenden Heiligenschein, der einen Mann komplett verwandelt – Satire, oder nicht doch ein Stück Erweckungsgeschichte? Und im Schweizer »Soul of a Beast« von Lorenz Merz wird eine leidenschaftliche Liebesgeschichte immer wieder überfrachtet von einer philosophiegeschwängerten Offstimme, die viel beschworene »andere Seite« (nach dem Tod) möchte man nicht kennenlernen. So hinterließ der Wettbewerb eher zwiespältige Gefühle.
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