Erbe oder Ein-Euro-Laden?
Es kann vorkommen, dass man einen Artikel aus dem Kulturteil liest und plötzlich feststellt, dass man auf der Wirtschaftsseite gelandet ist. Online erst recht. Das ist mir in der letzten Woche passiert, als ich in der Sektion "Entertainment & Arts" der "Los Angeles Times" eine Überschrift sah, die mich alarmierte.
"The Hollywood & Highland elephants are coming down, a rejection of D.W. Griffith' racist legacy" lautete die Schlagzeile, die auftrumpfend einen architektonischen und spirituellen Umbruch im Herzen von Los Angeles annoncierte. An der Kreuzung der oben genannten Boulevards steht ein Einkaufszentrum, in dem auch das Dolby Theatre untergebracht ist, in dem die Oscar-Verleihung stattfindet. Darüber ragten bis vor einigen Tagen Elemente der pseudo-mesopotamischen Dekors aus der Babylon-Episode von »Intolerance« in den Himmel, darunter die zwei riesigen, aus weißem Fiberglas gefertigten Elefanten. Zuerst vermutete ich dahinter eine jener puritanischen Übersprungshandlungen, mit denen die Filmbranche sich neuerdings von ihren historischen Befleckungen zu reinigen sucht. Dabei steht nicht »Intolerance«, sondern »Birth of a Nation« für das problematische Erbe des Filmpioniers. Im Gegenteil: Dieses Epos stellt eine monumentale Geste der Abbitte des Filmemachers dar. Seinen Titel trägt es nicht von ungefähr.
Tatsächlich stellte sich heraus, dass die Entscheidung nicht auf einen Vorstoß der Academy oder etwa einer besorgten zivilbürgerlichen Initiative zurückgeht. Der Wirtschaftsredakteur zitierte vielmehr die Verlautbarungen der neuen Eigentümer der Shopping Mall, die diese für erkleckliche 100 Millionen Dollar generalüberholen will. Sie soll attraktiver werden, und das prunkende Gedöns scheint ihnen nicht mehr zeitgemäß. Es ist ja auch schon mehr als ein Jahrhundert alt. Los Angeles befreit sich von ungemütlichem Ballast und darf noch ein Stück geschichtsloser werden. Da zeigt sich die Löschkultur von ihrer zynischsten Seite.
Ein paar Tage, bevor am Hollywood Boulevard die Abrissbirne zum Einsatz kam, wurde die Stadt Liverpool für ihre Geschichtsvergessenheit bestraft: Die UNESCO entzog ihr den Titel des Weltkulturerbes. Zu diesem aus ihrer Sicht drakonischen Schritt sah sie sich erst zum dritten Mal gezwungen (einer davon betraf die Uferlandschaft in Dresden). Die Organisation hatte Liverpool ursprünglich wegen ihrer viktorianischen Hafenanlagen ausgezeichnet, insbesondere des berühmten Albert Dock. Die UNESCO mochte nicht länger hinnehmen, dass die stolze Uferpromenade nicht entschieden genug von der Stadtverwaltung gegen Investorenpläne geschützt wurde, die dort anonyme Hochhäuser und eine neue Sportarena für Everton errichteten. Liverpool, das ehedem ein Hauptumschlagplatz des britischen Seehandels gewesen war, gehört inzwischen zu den ärmsten Städten Englands.
Den Architekturkritiker des "Guardian" hat die Entscheidung nicht überrascht. Er war vielmehr schockiert. dass die UNESCO nicht schon früher handelte - Liverpool stand seit 2012 auf ihrer Liste der Wackelkandidaten – und gegen den planerischen Vandalismus protestierte. Vor allem empört ihn, wie sich die Stadt an der Mersey seit gut einem Jahrzehnt mit allen Mitteln in ein "pound-shop Pudong" verwandeln will. Also auch dies die Chronik einer angekündigten Katastrophe: Statt ihr viktorianisches Erbe zu pflegen, zieht Liverpool es vor, die Ein-Euro-Laden-Version von Shanghai werden.
Es ist die nach London meist gefilmte Stadt im United Kingdom. Dass sie zu einem der wichtigsten Drehorte für heimische und internationale Produktionen werden konnte, verdankt sie nicht zuletzt ihrer architektonischen Vielgestaltigkeit, in der sich mehrere Epochen abgelagert haben. Überzeugen Sie sich selbst, in dem sie die Wikipedia-Liste von Kino- und TV-Filmen durchforsten, die dort gedreht wurden. In den letzten Monaten begegnete mir die Filmstadt häufig. In Carol Reeds munterer Komödie »Penny Paradise« (kein Bezug zum »one-pound-shop«, der Film stammt von 1938) schippert Edmund Gwenn als Schlepperkapitän durch die alten Hafenanlagen und man begreift sofort, weshalb sie ein Wahrzeichen waren. Einige Monate zuvor stieß ich auf den sozialkritischen Thriller »Violent Playground« (Kinder der Straße, Regie: Basil Dearden), der zeigt, welch spannungsreicher Schmelztiegel die Einwandererstadt bereits 1958 war. Die Siedlung, in der David MacCallum wohnt, erinnert ein wenig an die Wiener Gemeindebauten, etwa den Marx- oder den Engelshof. Stephen Frears' Detektivkomödie »Gumshoe« (Auf leisen Sohlen, 1971) legt ein kleines Archiv von markanten Gebäuden der Stadt an, die seither abgerissen wurden.
Niemand jedoch hat die Verwerfungen der Stadt mit solch zuverlässiger Poesie bedauert wie Terence Davies. Er ist ein waschechter Liverpudlian, dessen Zuneigung zu seiner Heimatstadt im Laufe der Jahre auf harte Proben gestellt wurde. In seinen ersten Langfilmen »Entfernte Stimmen – Stillleben« und »Am Ende eines langen Tages« evoziert er seine Kindheit und Jugend, das entbehrungsreiche Heranwachsen in einer vielköpfigen Arbeiterfamilie und das Glück, das er in Musik, Schauspiel und Kino findet. In ihnen herrscht ein wehmütiges Schillern zwischen Hinwendung und entschlossener Abkehr. Als Liverpool 2008 europäische Kulturhauptstadt wurde, kehrte er noch einmal zurück, um einen Dokumentarfilm über sie zu drehen. Diese Heimholung war eine ziemlich mutige Produzentenidee, denn lokalpatriotische Verklärung war mitnichten von ihm zu erwarten. »Of Time and the City« ist einer seiner schönsten Filme überhaupt. Er imarkiert zudem ein bewegendes Comeback im Kino nach einem achtjährigen Verschwinden. Er wurde nach Cannes und zu vielen weiteren Festivals eingeladen, stieß nach der Premiere daheim aber zunächst auf erbitterte Ablehnung: Ein Werbefilm ist er nicht.
Eine Liebeserklärung aber schon. Er evoziert die Stadt seiner Kindheit in historischen Aufnahmen (selbst Fußball hat Würde in Schwarzweiß) und einem intimen Off-Kommentar. Das ist einerseits eine enge Welt – er nennt sie eine "keyhole-world: home, school, movies, and god" - und zugleich ein Terrain urbaner Entdeckungen. Die Architektur ist ein prunkvolles Schauspiel für ihn. Davies ist im Einklang mit der Stadt und verzweifelt an ihr. Die größte Umwälzung der Nachkriegszeit ist für ihn der Abriss der Armenviertel, die durch gigantische Wohnblocks ersetzt wurden, welche ihrerseits rasch verfielen. Dazu erklingt "The folks who live on the hill" von Peggy Lee. Die Musik spielt eine zentrale Rolle im Film, er setzt sie nicht als sarkastischen Kontrast ein, sondern als Fanfare eines anderen Blicks. Als sein Bruder zum Koreakrieg eingezogen wird, läuft zu den Wochenschaubildern der Mobilmachung "He ain't heavy, he's my brother" von "The Hollies". Wer den Song kitschig findet, soll mir erst mal beweisen, dass er aus dem Stand die Zeile "He would not encumber me" übersetzen kann!
Die Band stammt übrigens aus Manchester, was seinerzeit als Provokation nicht unbemerkt blieb. Die berühmtesten Söhne Liverpools kommen im Gegenzug nur kurz vor; mit den "Beatles" konnte Davies wenig anfangen. Er lässt einige Einwohner zu Wort kommen. Wie in seinen Spielfilmen sind es eindringliche Lebenszeugnisse vor allem von Frauen. Wie so oft bei Davies fragt man sich, wohin die Elegie führt. Das ist keine niederschmetternde, sondern faszinierte Frage. Die exzellente DVD-Ausgabe des British Film Institute gibt Antworten auf sie. Der Titel seines Films erinnert an Thomas Wolfes »Of Time and the River« (Von Zeit und Strom), obwohl dessen "Es führt kein Weg zurück" ("You can't go home again") ein naheliegenderes Motto für Davies' Reise in die Vergangenheit seiner Stadt gewesen wäre.
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