Der erweiterte Horizont
Es ist möglich, dass dieser Text von einem Generationswechsel handelt. Ich hoffe, das wird er nicht zu sehr. Aber dass man nichts ausschließen soll, könnte eines seiner Themen sein; vielleicht sogar eine Lehre, die ich aus ihm ziehen sollte.
Als vor etwas mehr als einer Woche Monte Hellman starb, dachte ich augenblicklich, was für einen schönen Nachruf Hans Schifferle auf ihn geschrieben hätte. Ein paar Tage zuvor, als der Tod von Richard Rush gemeldet wurde, war mir der gleiche Gedanke durch den Kopf gegangen. Letzterer ist hierzulande weniger bekannt, obwohl einige seiner Regiearbeiten in ihrer Zeit erfolgreicher waren. Aber mir scheint, die Feuilletons nahmen bei uns kaum Notiz. Was wiederum zeigt, wie sehr Hans fehlen wird.
Zu seinem eigenen Tod sind einige sehr schöne Nachrufe erschienen, von Kollegen oder Freunden geschrieben, was selten ein Unterschied war. Rudolf Worschechs Text in der nächsten Ausgabe schließt an diese Reihe zugeneigter Abschiede an; er steht bereits online. Hans war ein begnadeter Autor von Nachrufen, wobei ich glaube, dass man ihn viel zu selten dafür verpflichtete. Er passte ideal zu dieser Disziplin, weil er ein solch begabter Bewunderer war, ein Fürsprecher, in Frankreich würde man sagen: ein Verteidiger. Bei Monte Hellman kam er mir in den Sinn, weil er gewiss die amerikanische Mobilität seiner Filme mochte, den Freiheitsdrang der Road Movies des New Hollywood und die Melancholie, die ihren Bewegungen innewohnt. Zu Anfang habe ich ihn tatsächlich vor allem als Kenner des amerikanischen Genrekinos wahrgenommen, mit einem präzisen Blick für die Lakonie des Erzählens und beherzter Sympathie für dessen Außenseiter. Später merkte ich (und er hatte es inzwischen bestimmt auch), dass seine Interessen viel weiter reichten. Seine Erkundungsfreude fand dort ihren trefflichsten Gegenstand, wo unsereins nicht so genau hinschaute. Er war das Gegenteil eines Snobs und ziemlich ungeeignet, Verrisse zu schreiben.
Als ich in diesem Beruf anfing, gehörte er zu der Generation, die vorher auf den Plan getreten war. (Altersmäßig lagen wir gar nicht so sehr auseinander, aber ich war schon damals ein Spätzünder.) Das war ein Kreis, der sich um Norbert Grob und Ulrich von Berg bildete und zu dem Michael Esser, Frank Arnold und andere gehörten. Sie schrieben Bücher über Nicholas Ray und über Nebendarsteller ("The Late Late Show" war ein einziges Manifest des subjektiven Geschmacks), aus denen eine Liebe zum Hollywoodkino sprach, in der ich eine starke Identifikation spürte. Natürlich können auch andere exzellente Nekrologe auf Hellman und Co. schreiben (es gibt immer andere), aber nicht mit dieser ursprünglichen, so innigen Begeisterung.
Hans Schifferles Texte, die ich "steadycam" und anderswo las, waren also etwas, das ich entweder ablehnen oder von dem ich lernen konnte. Oft fand ich seine Vorlieben exotisch und bizarr; mit den Jahren las ich seine Texte genauer. Als ich anfing, war das Weltkino noch kleiner, überschaubarer. Hollywood dominierte in den 80ern die Kinoprogramme. Was man an europäischem Kino sehen konnte, stammte vor allem aus Frankreich und England, manchmal Italien. Das spanische Kino identifizierte man hauptsächlich mit Carlos Saura, der sich mit seinem Carmen-Film gerade neu erfunden hatte. Das portugiesische? Manoel de Oliveira arbeitete gerade an seinem Comeback, was man aber nur merkte, wenn man ins Forum der Berlinale ging. Das osteuropäische Kino fand mitunter zu einer inneren Freiheit, die hiesige Spielpläne eher sporadisch abbildeten. Tarkowski war immer eine sichere Bank, Wajda und Zanussi hatten keinen so leichten Stand, Szabó drehte in Deutschland und Jancso schien an die Filmgeschichte verloren gegangen zu sein. Mit dem japanischen Kino assoziierte man Kurosawa und Oshima, aus Indien war vor allem Satyajit Ray bekannt und Mrnal Sen nicht wirklich; von Guru Dutt hatten zu dieser Zeit allenfalls Spezialisten gehört. Was etwa im Iran oder in Taiwan an aufregend Neuem entstand, war zuerst auf dem Festival von Locarno zu entdecken und brauchte seine Zeit, um in hiesige Kinos zu kommen.
In den 1990ern konnte man diese globalen Neuentdeckungen dann verstärkt auf der Berlinale und nicht zuletzt der Viennale nachvollziehen. Ganz unbekannte Kinematografien, zumal aus Asien, forderten dazu auf, erschlossen zu werden. Und auch die Filmgeschichte konnte mit einem Mal ganz anders erzählt werden, mancher Kanon wurde aufgebrochen. Mit dem Zuwachs an Erkenntnis kommt man seither kaum mehr mit. Das passiert, wenn die Grenzen gesprengt werden. Es gibt Pilotfische und den Rest von uns, der vollauf damit beschäftigt ist, ihren Entdeckungen zu folgen. Dieser stetige Wandel im Kino ist ein schönes Privileg unseres Berufes, aber manche Kollegen schreckt er auch. Eine gemeinsame Freundin aus Viennale-Zeiten schrieb mir nach Hans' Tod, sie würde sich zurückziehen: Sie wisse gar nicht mehr, wie sie über die jetzigen Filme schreiben solle.
In Wien verbrachten Hans und ich weit mehr Zeit miteinander als in Berlin. Natürlich traf man ihn zuverlässig in den vorzüglichen, Bahn brechenden Retrospektiven, die das Filmmuseum zusammen mit der Viennale veranstaltete. Ich konzentrierte mich anfangs auf sie, während Hans' Neugier sich ebenso auf die anderen Sektionen erstreckte. Ich war fauler, nahm lieber geschmeichelt die Einladung zu einem Empfang oder Abendessen an. An einen Empfang erinnere ich mich dann aber doch, zu dem er erschien. Erich von Stroheims »The Wedding March« hatte eine glanzvolle Wiederaufführung erlebt, zu der Fay Wray, der weibliche Star des Films, gekommen war. Sie kennen sie bestimmt noch als the beauty that killed the Beast aus dem ersten »King Kong«. Hans verschlug es vor lauter Ehrfurcht die Sprache, dass er im selben Raum mit einer Legende sein durfte. Ich vermute, da holte ihn jene kindliche Begeisterung ein, die wir viel zu leicht abschütteln. Er war kein Fan, kein Groupie – er war zu schüchtern, sie anzusprechen und wäre nie auf die Idee gekommen, sie um ein Autogramm zu bitten -, sondern ein gründlicher Bewunderer.
Ich bewunderte, wie er sich auf der Viennale all dem aussetzte, was da an Ungekanntem dargeboten wurde. Er berichtete voller Begeisterung, was er am Vortag gesehen hatte, ohne Ironie und mit einer Kennerschaft, die er nicht ausstellte, die vielmehr demütig war. Er erzählte als einer, der Anteil nahm an dem, was vor der Kamera geschah. Sein Blick war gewährend und fand stets einen neuen Anreiz. Er war auf dem Sprung, aber bewahrte zugleich, was ihm kostbar war. Mir war er da immer einen Schritt voraus. Während ich noch mit James Benning haderte, stellte er bereits die Vermutung an, die Filme seiner Tochter seien noch interessanter: Kein Generationenkonflikt, sondern ein Zugewinn.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns