Buch-/Streaming-Tipp: Disney-Themenparks
»Die Imagineering Story« (Miniserie, 2019). © Disney+
Die Disney-Themenparks gehören zu den großen Verlierern der Corona-Krise; 32 000 Angestellten wurde allein in den USA gekündigt, und auch die Tore zu Disneyland Paris bleiben mindestens bis zum 20. Januar geschlossen. Zur Überbrückung könnte man sich mit einer opulenten Buchveröffentlichung im Taschen Verlag trösten. Schlägt man den von Chris Nichols zusammengestellten Band »Walt Disney's Disneyland« auf, lässt sich die erste Doppelseite zu einer gemalten Ansicht des berühmten Eingangsportals im Superbreitwandformat aufklappen. Nach einer kurzen Einführung geht es unter der Überschrift »Südkaliforniens fröhlichster Exportartikel« zur Entwicklung des originalen Themenparks in Anaheim von der ersten Vision bis zur Eröffnung der Disney-Ländereien am 17.6.1955: Adventureland mit den Naturabenteuern, Frontierland als amerikanische Geschichtsstunde, Futureland mit den Visionen für das Leben in der Zukunft und natürlich Fantasyland, das Kerngeschäft der Disney-Animationen.
Angesichts des globalen Riesengeschäfts mit Themenparks und Kreuzfahrtschiffen – allein durch den kalifornischen Themenpark wurden 2019 fast 21 Millionen Besucher geschleust – kann man sich nur wundern, wenn man von den enormen Widerständen liest, gegen die Disney seine Vision in den 40er und 50er Jahren verteidigen musste. Zu groß! Zu teuer! Zu kühn! Alle hielten ihn für verrückt, ähnlich wie später George Lucas mit seiner irrwitzigen »Star Wars«-Idee, die inzwischen ja auch Teil der großen Disney-Traummaschinerie ist. Interessant auch, welch vielfältige Inspirationen Disney in Kalifornien zusammenführte, von der Fantasiearchitektur eines seiner Lieblingsrestaurants über den Tivolipark in Kopenhagen bis zu seiner Leidenschaft für moderne Fortbewegungsmittel von der Eisenbahn über Schaufelraddampfer, Piratenschiffe bis zu Ballons und Raumraketen. Disneyland ist »etwas, von dem ich schon immer geträumt habe, ein großer, großer Spielplatz«. Zugleich eine Welt ohne Horizont, die von der Wirklichkeit abgeschirmt war. Unweigerlich wird das Buch dabei auch zur Hommage an den Spirit von Walt Disney, der zugleich verspielter Kindskopf und so visionärer wie harter Geschäftsmann war.
Wie viele andere Publikationen des Taschen Verlags glänzt auch diese mit der bewährten Mischung aus üppigem Bildmaterial, das mit einer Fülle von historischen Informationen und lebendigen Erzählungen von Zeitzeugen und Historikern vernetzt ist. Neben Fotos von glücklich staunenden Besuchern am Eröffnungstag und aus mehr als 60 Jahren Disneylandgeschichte gibt es Fotos aus den Werkstätten und eine Fülle von Entwurfsskizzen für spektakuläre Landschafts-, Restaurant-, Schloss- und Kinoarchitekturen, aber auch für Animatronic-Figuren, Kostüme, Fahrgeschäfte. Viele Designer, Architekten, Konstrukteure und Zeichner wurden damals direkt aus den Filmproduktionsstätten in die im Dezember 1942 gegründete Firma »Walt Disney Imagineering« – eine Wortschöpfung aus Imagination und Ingenieurskunst, aus Idee und Konstruktion – geholt, um den Disneylandpark in allen Details zu entwerfen und zu realisieren. Dazu gehörten die Kostümdesignerin Renié Conley, die die Outfits für die 10 000 Angestellten des Themenparks entwarf, bevor sie in den 60er Jahren einen Oscar für ihre Cleopatrakostüme bekam, Harper Goff, der als Productiondesigner von »20 000 Meilen unter dem Meer« unter anderem die Nautilus entworfen hatte und als Chefdesigner von Adventureland fungierte, oder John Hench, der die Hintergründe für »Fantasia« und »Dumbo« zeichnete und sich darüber freute, dass er im Themenpark dreidimensional arbeiten durfte: »Als wir begannen, Disneyland zu entwerfen, gingen wir genauso vor wie beim Filmemachen: Wir hatten eine Geschichte zu erzählen – oder in diesem Fall eine Reihe von Geschichten. ( . . . ) Wir entwarfen den ganzen Park so, dass ein Gast Szene eins oder zwei nicht verpassen konnte. In dem Augenblick, in dem er unser Kino betrat, also durch den Haupteingang ging, begann für ihn die erste Szene.« Viele Rides wurden als Kurzfilm konzipiert, den die Besucher als beobachtende Nebendarsteller erlebten.
»Ich wollte etwas Lebendiges, das wachsen kann und ein fruchtbarer Boden für neue Ideen ist«, bekundete Disney. »Während sich das Buch fast vollständig auf die Schöpfung des Ur-Disney-Parks in Anaheim konzentriert (der einzige Park, der vor Walt Disneys Tod im Dezember 1966 vollständig unter seiner Ägide entstanden ist) und am Ende nur einen kleinen Ausblick auf die Satelliten in Florida, Tokio, Paris, Schanghai und Hongkong skizziert, geht die Doku-Serie »Die Imagineering Story« weiter. Nach der ersten Folge über die Schöpfungsgeschichte von Disneyland verfolgt sie in den weiteren fünf, rund einstündigen Folgen die konsequente Weiterentwicklung und Verbreitung der Disneylandidee als work in progress. Damit reiht sich die Serie in eine Fülle von Making-of-Dokumentationen ein, mit denen auf Disney+ der eigene Mythos befeuert und zelebriert wird. Doch böse sein kann man über diese Form der Eigenwerbung nicht, denn dazu sind die verschiedenen Formate viel zu unterhaltsam und informativ. Immer wieder aufs Neue lassen sie die Funken der Begeisterung überspringen von den großen Kids, die sich auf diesem riesigen, teuren Spielplatz nach Herzenslust austoben können. Als Enkelin des legendären Mickey-Mouse-Geburtshelfers Ub Iwerks ist Regisseurin Leslie Iwerks spürbar mit der Disney-Leidenschaft infiziert, sie hat eine Fülle von Materialien zusammengetragen und auf so mitreißende Weise kompiliert, dass aus dem ursprünglich als abendfüllender Film konzipierten Projekt eine sechsteilige Serie wurde, die man sich gut noch länger vorstellen könnte. Dass Walt Disney auch ein unnachgiebig harter Arbeitgeber war, der von Gewerkschaften und Streiks wenig hielt, muss dabei freilich eine Randnotiz bleiben.
Als Zuschauer wird man Teil der Prozesse, hat exklusiven Zutritt zu Entwurfslaboren und Werkstätten und hört außer von Erfolgsgeschichten auch von den Misserfolgen. So fremdelten die Franzosen lange mit dem Pariser Disneylandableger, erst als die amerikanischen »Imagineure« einen Weg fanden, die US-Marke mit französischem Flair zu verbinden, und in dem Pixar-Animationsfilm »Ratatouille« die passende Vorlage für eine rasante Ride und das dazugehörige Restaurant fanden, zündete die Begeisterung. Auch für Schanghai, Tokio und Hongkong musste zwischen Tradition und Landeskultur der jeweils richtige Dreh gefunden werden.
Während man sich in den Bildband kontemplativ versenken kann, wird man in der Serie immer wieder vom Schwung und Drive, der schieren Imaginationskraft und Entwicklerlust mitgerissen. In Erzählungen vieler damals beteiligter Tüftler und in kostbaren Archivaufnahmen erlebt man hautnah, wie Ideen zum Leben erweckt, wie ikonische Locations wie das Prinzessinnenschloss, das Matterhorn, der Space Mountain und später der Indiana-Jones-Ride, die Star-Wars-Welt und das Avatarland entworfen und gebaut, wie die mechanischen Animatronic-Figuren des Enchanted Tiki Room konstruiert und die Hologrammgeister der Haunted Mansion losgelassen werden. Man muss kein Fan der trubeligen Themenparks für die Massen sein, und man muss diese Orte nicht für die happiest places on earth halten, um an dieser Schnittstelle von Kinomagie und Jahrmarktsvergnügen fasziniert und verzaubert zu werden.
Chris Nichols: Walt Disney's Disneyland. Taschen Verlag, Köln 2020. 328 S., 40 €.
Die Imagineering Story. USA 2019. Regie: Leslie Iwerks, 6 Folgen, Disney+.
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