Streaming-Tipp: »Uncle Frank«
Im Sommer 1973 sind die Stonewall-Proteste, die inzwischen als Geburtsstunde der modernen LGBTQ-Bewegung gelten, gerade einmal vier Jahre her. Und außerhalb New Yorks hat außer Aktivisten noch kaum jemand etwas davon gehört, in der Provinz allemal nicht. Frank Bledsoe (Paul Bettany) ist mit Mitte 40 angesehener Literaturprofessor an der NYU und lebt ganz offiziell mit seinem jüngeren Lover Wally (Peter Macdissi) zusammen. Doch in seiner alten Heimat, der Kleinstadt Creekville, South Carolina, im tiefen, erzkonservativen Süden, weiß niemand von seinem freien Leben. Bis seine 18-jährige Nichte Beth (Sophie Lillis) zum Studium nach New York kommt und eher zufällig Franks queeres Leben entdeckt. Als dann dessen despotischer Vater unerwartet verstirbt, fahren Frank und Beth gemeinsam in die alte Heimat, wo die Situation durch das plötzliche Auftauchen von Wally und von verschütteten Erinnerungen an ein tragisches Ereignis schnell eskaliert.
Autor und Regisseur Alan Ball greift dabei in Teilen auf die eigene Familiengeschichte zurück. Der 63-Jährige stammt selbst aus einer Kleinstadt in Georgia und vermengt als Ausgangspunkt sein eigenes, spätes Coming-out mit einer vermuteten tragischen Jugendliebe seines Vaters mit einem jungen Mann. Franks Geschichte erzählt er in großen Strecken aus der Perspektive seiner zugewandten, weltoffenen Nichte, die in ihrem Onkel immer ein Vorbild sah mit seiner sensiblen, unkonventionellen Art, und nun auch dessen schwache Seiten entdeckt. Das funktioniert vor allem wegen Sophie Lillis sehr gut, weil sie Beths aufgeweckte Neugierde nie anbiedernd wirken lässt. Der stets unterschätzte Paul Bettany als ein mit Traumata und Alkoholismus ringender Mann war selten so gut wie hier. Ball gelingt in seiner Mischung aus Coming-out-Familiendrama und Roadmovie eine tragikomische Balance und vor allem in den Szenen mit der ständig unter Dampf stehenden Großfamilie mit ihren unterschwelligen Konflikten und offenen Aggressionen einige Momente, die wie aus einem brodelnden Tennessee-Williams-Stück und doch wahrhaftig wirken.
Es sollte Balls Rückkehr zum Kino werden, nachdem er vor 20 Jahren für das Drehbuch zu Sam Mendes' »American Beauty« mit dem Oscar ausgezeichnet wurde und 2007 mit seinem Regiedebüt »Towelhead« bei Kritik und Publikum wenig Anklang fand. Ball hat mit seinen beiden HBO-Serien »Six Feet Under« über eine dysfunktionale Bestatterfamilie in Los Angeles und später »True Blood« das Goldene Serienzeitalter der Nullerjahre maßgeblich mitgeprägt. Sein erster selbst inszenierter Spielfilm nach 13 Jahren hatte im vergangenen Januar Weltpremiere auf dem Sundance Filmfestival, wo sich Amazon die weltweiten Rechte sicherte. Franks Geschichte ist damit zwar nicht auf der großen Leinwand, dafür auch im kleinsten Kaff am Ende der Welt zu sehen. Sicher nicht das schlechteste Ende.
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