Der Schrecken der Zahlen
In dieser Woche laufen sage und schreibe 24 Filme bei uns an. Das Problem ihrer Sichtbarkeit verschärft sich mehr und mehr. Wie viel Aufmerksamkeit kann jeder von ihnen überhaupt gewinnen? Wird er eine Chance haben, lang genug in den Kinos zu zirkulieren, um sein Publikum zu finden? Und was ist mit all den wichtigen Filmen, die es erst gar nicht auf unseren Markt schaffen?
Ich frage mich zum Beispiel, wie sich wohl der amerikanische Dokumentarfilm „One Child Nation“ von Nanfu Wang und Jialing Zhang in hiesigen Kinos geschlagen hätte. In Sundance wurde er mit einem Hauptpreis ausgezeichnet, als er in den USA und England mit ein paar Kopien herauskam, erntete er begeisterte Kritiken. Die Zuschauerzahlen stellten Amazon Studios offenbar zufrieden. Vor zwei Wochen wurde er unter dem Titel „Land der Einzelkinder“ zur besten Sendezeit auf arte ausgestrahlt (er ist als Co-Produktion mit dem WDR entstanden). Jedoch zweifle ich, ob er damit als das Ereignis wahrgenommen werden konnte, das er ist. Aus dem Dokumentarfilm ist eine Dokumentation unter vielen geworden. Die französische Tageszeitung „Le Monde“ beispielsweise nahm keine Notiz von ihm, in der FAZ erschien immerhin eine Fernsehkritik. Gleichviel, ich lege Ihnen den Film dringend ans Herz: Am kommenden Donnerstag wird er kurz nach Mitternacht wiederholt, und ist bis zum 20. 11. noch in der Mediathek abrufbar.
In der letzten Zeit geht mir häufig etwas durch den Kopf, das Francois Ozon mir im Interview zu „Gelobt sei Gott“ erzählte. Ursprünglich hatte er mit dem Gedanken gespielt, einen Dokumentarfilm über Missbrauch in der Kirche zu drehen. Über die heftigen Reaktionen, die der Kinostart seines Spielfilms dann in Frankreich ausgelöst hat, sagte er: „Angesichts der Angriffe wurde mir bewusst, wie viel Macht das Kino besitzt: Es macht Angst. Wenn ich einen Dokumentarfilm fürs Fernsehen gedreht hätte, hätten ihn vielleicht zwei Millionen Leute gesehen; das schüchtert noch niemanden ein. Aber ein Spielfilm schon, denn da geht es um Emotion und Identifikation.“ Auch wenn thematische Verbindungen zwischen den Filmen bestehen – in beiden tritt eine verdrängte Wahrheit ans Licht, sie erzählen erstaunlich besonnen vom entsetzlichen Schmerz, der Individuen und ihren Familien in einem System zugefügt wurde, das die Täter schützt – hinkt der Vergleich natürlich; das passendere Gegenstück zu „One Child Nation“ ist vielmehr „Bis dann, mein Sohn“ von Wang Xiaoshuai, der ebenfalls von der chinesischen Ein-Kind-Politik handelt und in der nächsten Woche als einer von 17 Neustarts anläuft.
Da der deutsche Fernsehtitel mir eine Spur zu harmlos klingt – er lässt die Möglichkeit offen, es sei der Wunsch der Eltern, Einzelkinder zu haben -, halte ich mich an das Original, das der politischen Brisanz gerecht wird. Die Gewalt, die ein Staat ausübt, wenn er den Frauen die Kontrolle über ihren Körper nimmt, kündigt er unmissverständlich bereits im Vorspann an, der Bilder eines Fötus parallel führt zu Aufnahmen einer Militärparade. Nanfu Wang, die auch für die Kamera und den Schnitt zuständig ist, erzählt aus persönlicher Betroffenheit. Sie wuchs im China dieser Epoche auf und stellte sich nach der Geburt ihres eigenen Kindes Fragen nach den Auswirkungen, welche die rigide durchgesetzte Bevölkerungspolitik auf das Leben ihrer Mitmenschen hatte. Ihre eigene Mutterschaft, sagt sie, setzte plötzlich eine Flut von Bildern aus ihrer Kindheit frei. Diese waren vornehmlich von der staatlichen Propaganda geprägt, die allgegenwärtig war. Wang ist, als Sprecherin des Kommentars wie als Akteurin vor der Kamera, eine unaufdringliche Präsenz. Sie stellt einen persönlichen Zugang zu dem Unfassbaren her. Ihre eigene Unwissenheit über die tatsächlichen Verhältnisse schlägt in eine Erschütterung um, die nicht auftrumpft, sondern eine moralische Wissbegier freisetzt.
Ihre Fragen brechen ein Jahrzehnte währendes Schweigen. Einige ihrer Gesprächspartner wirken wie versteinert, als sie mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert werden. Der Drill steckt ihnen noch in den Knochen. Andere sind dankbar, ihrer Seelennot und ihren Schuldgefühlen endlich Luft machen zu können. Der Aufwand, mit dem das Regime gegen die Überbevölkerung kämpfte, ist unvorstellbar. Es ging um Abermillionen ungelebter Leben. Die Hebamme, die Nanfu Wang 1985 in der armen, ländlichen Provinz Jiangxi zur Welt brachte, berichtet von 50000 bis 60000 Zwangssterilisationen und Abtreibungen (oft noch im siebten oder achten Monat), die sie zwischen 1979 und 2015 vornahm. Die Mütter wurden von den Behörden entführt und gefesselt „wie Schweine“ in ihren Operationssaal gebracht. Wer sich den staatlichen Anordnungen widersetzte, dem wurde das Haus angezündet, der wurde enteignet oder dem wurde mit Schlimmerem gedroht. „Besser ein Blutbad als ein zweites Kind!“ lautete ein unfasslicher Propaganda-Slogan, der auf Hauswänden und Bannern zu lesen war. Einige Momente sind kaum zu ertragen, wie der Bericht eines Fotografen, der zufällig auf einer Halde Föten entdeckte, die als medizinischer Müll entsorgt wurden. (Die Anfangsbilder zeigen einen Fötus, den er konserviert hat). Neugeborene Mädchen, die nicht von den Behörden registriert worden waren, setzten ihre Familien in Bambuskörben auf dem Markt aus: mit hilflosem, barbarischem Pragmatismus direkt neben den Ständen der Metzger.
Auf Geheiß eines alten Mönchs leistet die Hebamme seither Abbitte, in dem sie kinderlosen Familien hilft, ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Ihre Worte klingen nach jenem Ritual der Selbstbezichtigung, mit dem die Partei traditionell ihre eigenen Reihen säubert und sicherstellt, dass der Apparat selbst nicht angeklagt wird. Eine Beamtin der Behörde für Familienplanung erklärt, wenn sie die Zeit zurückdrehen könnte, würde sie alles genau wieder so machen. Das ist einer der verstörenden Erträge, den die Recherchen der Regisseurinnen hervorbringen: Kaum ein Gesprächspartner stellt die Notwendigkeit der Maßnahmen infrage, einschließlich Nanfus Mutter. Der Gehorsam dauert, auch wenn er jetzt von Zweifeln oder Bedauern getrübt wird, fort.
Auch visuell stellt dieser Dokumentarfilm, der keine Bildernot kennt, eine mulmige Kontinuität zwischen dem Einst und Jetzt her. Das gelingt nicht zuletzt, weil die Propaganda seit 2015 nun ebenso unerbittlich einem neuen Zweck folgt: die Zwei-Kind-Politik zu verherrlichen. Die Lücken, die schmerzlich in den Familien klaffen (sowie in der Demographie), werden sichtbarer. Immer neue Aspekte ihres Themas greifen Wang und Zhang auf und legen weitere Schichten des nationalen Traumas frei. Die Geburt von Zwillingen galt als Verstoß gegen die Ein-Kind-Politik. Sie wurde geahndet, rasch aber auch von Menschenhändlern als Geschäftsfeld entdeckt, die „gefundene“ Kinder an Waisenhäuser verkauften. Der Staat verstand es, davon zu profitieren, beschlagnahmte die Neugeborenen und rief Anfang der 1990er Jahre ein Adoptionsprogramm ins Leben. Rund 13000 chinesische Kinder wurden an Adoptiveltern in aller Welt verkauft. Auf einer Studienreise nach China zu Beginn des Jahrtausends wies mich eine bewundernswert aufmerksame und empfindsame Mitreisende in unserem Hotel in Kanton darauf hin: Während wir beim Frühstück saßen, trafen in der Lobby hoffnungsvolle Adoptiveltern auf ihre neuen Kinder. Das traurige Entsetzen über diese Transaktionen, das sich im Gesicht der Dame zeigte, habe ich noch heute vor Augen. Mir allein wäre es nicht aufgefallen.
Derlei Ignoranz spielt auch in „One Child Nation“ eine Rolle. Wang fragt sich unentwegt, wie sie nur so naiv sein konnte, nicht mitzubekommen, was in ihrer Kindheit und Jugend um sie herum geschah. Der Prozess der Bewusstwerdung ist ein tragender Impuls ihres Films: Er will ergründen. Seine Wut und Trauer halten ihn zur erzählerischen Sorgfalt an. Der Blick ist genau, er fragt nach, macht die einstigen Befehlsempfänger dingfest in ihrem Schweigen. Er kann gewährend sein, wenn er etwa geduldig auf der schüchternen Hoffnung eines Mädchens verweilt, ihre adoptierte Zwillingsschwester einmal kennenzulernen oder der besonderen Weise, in der eine Mutter ihre Tränen trocknet.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns