Ins Maul der Wüste
Ulrich Noethen zählt zu den nicht wenigen hervorragenden Schauspielern, die auch als Sprecher und Vorleser tätig sind. Diese drei Metiers sind auf das Engste miteinander verwandt. Sie beruhen auf kunstfertiger Einfühlung, auf Sprachgefühl und verlangen zuweilen Demut. Aber manchmal trennen sie Welten.
Das wird mir gelegentlich bei Radioproduktionen klar, wenn vor den Mikrofonen Darsteller sitzen, die von Bühne, Film und Fernsehen bekannt sind. Manche von ihnen lassen keinen Zweifel daran, dass sie einen anderen Beruf ausüben: Sie geben sich die Ehre. Sie haben andere Allüren, eine andere Art von Konzentration und beschweren sich gern über das Manuskript. ("Warum nehmt ihr für so was nicht einen normalen Sprecher?"). Es hilft, sie zu umwerben. Ulrich Noethen habe ich bei einer solchen Gelegenheit bislang noch nicht erlebt. Ich kann mir aber schwer vorstellen, dass er dieser Kategorie anhört. Das schließe ich zumindest aus der großzügigen Professionalität, mit der er die Aufgabe in Angriff nahm, um die es im heutigen Eintrag geht.
Heute Abend wird im Filmmuseum Potsdam eine DVD vorgestellt, die vor einigen Jahren just an diesem diesem Ort entstanden ist. Es handelt sich um die Aufzeichnung des Lichtbildervortrags "Die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste", den Armin T. Wegner 1919 in der Berliner Urania und danach in Breslau und Wien hielt. Für die DVD wurde die historische Aufführungspraxis mit Hilfe einer Laterna Magica rekonstruiert, die Karin Bienek bedient. Ursula von Keitz, die Leiterin des Filmmuseums, benutzt hierfür den schönen Begriff der "künstlerischen Forschung". Die aufgezeichnete Veranstaltung ging auf die Kooperation mehrerer Partner zurück, darunter das Militärhistorische Museum der Bundeswehr, die Filmuniversität Babelsberg und das Lepsius-Haus, das unter der Leitung von Rolf Hosfeld zu der ersten Adresse bei der historischen Aufarbeitung des Völkersmords an den Armeniern geworden ist; ein Thema, das mich an dieser Stelle seit dem April 2015 regelmäßig beschäftigt. Die von absolut medien in bewährt sorgfältiger Weise edierte DVD weist neben dem knapp einstündigen Vortrag wortreiches Bonusmaterial auf. Sie ist bereits im letzten Herbst erschienen, aber das heutige Datum ist klug gewählt für deren "Premiere" bedeutsam: Wegner hielt den Vortrag erstmals auf den Tag genau vor 100 Jahren.
Er nahm als Sanitäter am Ersten Weltkrieg teil und trug wohl auch die Uniform der türkischen Verbündeten, als er die furchtbaren Ereignisse in Kleinasien mit "lebendigem Blick" verfolgte. Um sie fotografisch festzuhalten, setzte er sich über ein Verbot der jungtürkischen Regierung zurück. Wenn er entdeckt worden wäre, hätte ihm nach damaligen Kriegsrecht die Todesstrafe gedroht. Ulrich Noethen hat bereits zuvor schon einmal Texte von Wegner gesprochen: als einer von vielen prominenten Schauspieler, die in Eric Friedlers Dokumentation »Aghet - Ein Völkermord« Zeitzeugen ihre Stimme leihen. Nun ist er Solist.
Der erste Teil des Vortrags ist eine ungetrübte und lehrreiche Freude. Wegner schildert zunächst die Geschichte des armenischen Volkes, seine frühe Hinwendung zum Christentum, den unablässigen Brückenschlag zwischen Westen und Orient. Er beschreibt seine Umtriebigkeit, seine Handwerkskunst und den Geschäftssinn, gibt Einblicke in die familiären Strukturen und feiert die Schönheit der Frauen und Töchter. Das Bild einer weltoffenen Kultur entsteht, die dem Fortschritt gegenüber aufgeschlossen ist.
Gerade diese Aufgeschlossenheit ließ die Armenier jedoch zu arglosen Opfern der Jungtürken werden, deren Versprechen auf eine Moderne sie leidenschaftlich begrüßten. Ohne dem türkischen Volk eine Generalschuld zuzuweisen – diese Differenzierung ist ihm wichtig -, rekapituliert Wegner, wie das Regime sein teuflisch erdachtes Vernichtungswerk systematisch in die Tat umsetzte. Er klagt mit der Autorität des Augenzeugen an: nicht zuletzt jene, die ihre Augen verschlossen vor dem Genozid und so verhinderten, dass er völkerrechtliche Konsequenzen hatte. Sein Mandat ist es, Kunde zu geben von den unvorstellbaren Gräueln der Deportationen, die weit mehr als eine Million Armenier ins Maul der Wüste trieben. Anfangs wurden sie noch in Zügen transportiert und mussten – auch das haben die Nationalsozialisten von den Jungtürken gelernt – für die Fahrt selbst bezahlen: Billets für die Erste Klasse, obwohl sie in Güterwagen gepfercht wurden.
Wegners Worte sind wohlerwogen. Er lässt die Ereignisse für sich sprechen, die Verheerungen bedürfen keiner Ausschmückung und vertragen kein Pathos. Das Pfund, mit dem er wuchert, ist unbedingte Glaubwürdigkeit. Noethen folgt ihm darin.
Er behauptet nicht, überwältigt zu werden vom Entsetzen. Es mischt sich kein falscher Ton in seine Rede. Aber er muss sich mitunter sammeln. Ein, zwei Mal verhaspelt er sich. Das ist gut so. Eine solche Erzählung darf nicht reibungslos verlaufen. Wer weiß, ob dies Wegner seinerzeit nicht auch passierte?
Seine Sprache ist in ihrer Epoche verhaftet. Der Begriff "Rasse" hatte damals einen anderen Klang, der Gebrauch von Aus- und Vertreibung hat sich seither verschoben. Noethen lässt sich auf sie ein, er muss sie nicht in die Gegenwart hinüberretten. Dazu ist sie zu bildhaft und eindringlich. Wegner war im Zivilleben ein Lyriker. Sein Vortrag verlangt einen Duktus der Ruhe, der nicht gelassen oder besonnen ist. Auch nüchtern klingt er nicht, sondern genau. Es gilt, eine Mission mit Sorgfalt zu erfüllen. Noethen unterstreicht dies mit sparsamen Gesten. Er setzt keine gewichtigen Pausen, hält nur kurz inne, um auf Karin Bieneks Wirken an der Laterna Magica zu reagieren (sowie den Blick darauf zu lenken) und manche Bilder frei stehen zu lassen. Sie dürfen wirken. Wenn Ulrich Noethen die Zuhörenden zwischendurch fixiert, dann nicht ermahnend, sondern um die Verbindung aufrecht zu erhalten: zwischen Wegner, sich und uns.
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