Man nannte es den Großen Krieg
Zunächst dachte ich, die Arbeiten hätten sich verzögert, tatsächlich jedoch kam ich ein paar Tage zu früh. Dafür bot die Baustelle einen Anblick von großer Symbolkraft. Ich hatte gelesen, dass in der Pariser Metrostation Montparnasse den ganzen Sommer über ein Fresko zu sehen sei, das mich brennend interessierte: Vergrößert auf eine Länge von 130 Metern sollte in einem Gang Joe Saccos Comic „The Great War“ ausgestellt werden.
Aber bislang waren nur Teile davon geklebt. Sie überdeckten ein früheres Fresko, das aus Anlass der Ausstellung „Paris 1900 – La Ville spectacle“ (über die ich im Blog vom 14. April schrieb) angebracht worden war. Noch war die Zeittafel herausragender Ereignisse der Belle Epoque zu sehen, aber bei jedem weiteren Besuch der Metrostation verschwand sie zusehends. Eine beziehungsreiche Verdrängung: Zumal in Deutschland ist man versucht, die Vorkriegszeit nur von ihrem Ende her zu betrachten. Saccos Bild von der blutigen Materialschlacht an der Somme besiegelt endgültig das Ende der unbeschwerten Jahre. In den nächsten Tagen machte ich regelmäßig einen Umweg, um die Fortschritte zu begutachten. Die offizielle Einweihung fand jedoch erst nach meiner Abreise statt, am 1.Juli, dem 98. Jahrestag der Schlacht.
Saccos Buch, dessen deutscher Titel etwas sperrig „Der Erste Weltkrieg – Die Schlacht an der Somme“ lautet, ist erstaunlich. Wenn man es dem Schuber entnimmt, sieht es wie ein Akkordeon aus. Der Comic-Reporter erzählt auf 24 bruchlos aufeinander folgenden Tafeln von den Ereignissen des 1. Juli aus britischer Sicht. Als ich diesen Leporello erstmals in meinem Flur auf die Gesamtlänge von sieben Metern entfaltete, musste ich an Sam Fullers nie realisiertes Filmprojekt über den Vietnamkrieg denken, „The Rifle“, das er in einer einzigen, ununterbrochenen Bewegung drehen wollte. Betrachtet man die Tafeln für sich, kann man den Blick schweifen lassen wie in einer tiefenscharfen Einstellung von Renoir, die mit der Gleichzeitigkeit diverser Ereignisse arbeitet.
Sacco hat für sein Buchfresko im Fotoarchiv des „Imperial War Museum“ in London recherchiert. In diesem Museum lagert auch ein Dokumentarfilm, den die UNESCO dem Weltkulturerbe zugeschlagen hat und der heute (8. Juli) Abend im Berliner Zeughauskino zu sehen ist: „The Battle of the Somme“ von 1916. Falls Sie weder Zeit haben noch in Berlin weilen sollten, muss Sie das nicht grämen, denn dieser Meilenstein der Filmgeschichte ist in einer DVD-Edition von absolut Medien verfügbar. Auch er konzentriert sich auf den ersten Tag der Schlacht, schildert allerdings auch ausführlich die Bombardements, die ihm seit dem 25. Juni vorangingen. Auf das zeitgenössische Publikum wird er womöglich ebenso monumental gewirkt haben wie Saccos Fresko auf die Metrobenutzer in Montparnasse. Mit einer damals ungewohnten Laufzeit von fast 80 Minuten erweckt der Film den Eindruck, ein tatsächlich umfassendes Bild des Ereignisses zu zeichnen. Er kam in die britischen Kinos, während die Schlacht an der Somme noch tobte (sie dauerte drei Monate) und war mit 20 Millionen Zuschauern ein überwältigender Kassen- und wohl auch Propagandaerfolg.
Saccos Blickwinkel ist ein humanistischer, der des Films ein patriotischer. Der Zeichner erwähnt ihn nie als Inspirationsquelle. Gleichwohl weisen beide Werke bemerkenswerte Ähnlichkeiten auf. Sie geben sich als Reportagen zu erkennen. Saccos Buchfresko verzichtet auf Sprechblasen, was im Gegensatz zu dem Stummfilm eine bewusst getroffene Entscheidung ist. Die rund 50 Anmerkungen im Beiheft, in denen Sacco den Ablauf kommentiert, entsprechen Zwischentiteln. Vor allem weist „The Battle of the Somme“ im staunenswerten Einsatz von Panoramaschwenks auf Saccos Erzähltechnik voraus. Beide Werke sind fasziniert von der ungeheuren Logistik des britischen Vorstoßes. Kleine Details stimmen überein: Auch im Comic gibt es marschierende Rekruten, die den Betrachter fröhlich grüßen.
Während der Film den Auftakt der Schlacht als ruhmreichen Triumph feiert, stellt Sacco ihn als das Debakel dar, das er tatsächlich war. (Allein am ersten Tag fielen 20000 britische Soldaten und wurden 40000 verletzt, die Hälfte davon in der ersten Stunde.) Die Kameraleute begleiteten die Soldaten selbstverständlich nicht ins Schlachtgetümmel, sie zeigen das Davor und das Danach. Sacco hingegen blickt unmittelbar auf das Wirrsal aus Vormarsch, Sterben, Trommelfeuer und Granatenexplosionen. Seine Anmerkungen strafen etliche Behauptungen des Dokumentarfilms („Showing how quickly the wounded are attended to“ erläutert ein beschwichtigender Zwischentitel) Lügen; er betreibt gleichsam eine Gegengeschichtsschreibung. Erstaunlich ist indes, wie viele Opfer („The toll of war“) die Dokumentation tatsächlich zeigt.
Der von dem Zeichner und den Dokumentarregisseuren gewählte Fokus entlastet sie davon, den ausmergelnden Grabenkrieg zu schildern, der dem hoffnungsvollen big push des 1. Juli folgte. Davon hingegen erzählen viele Filme, die das Zeughaus in den nächsten Monaten in der Reihe „Der globale Krieg“ zeigen wird. Sie weist bemerkenswerte Ansätze auf, den Kanon zu erweitern. Aber sie muss sich die Frage gefallen lassen, ob bis zum Überdruss bekannte Filme wie Kubricks „Wege zum Ruhm“ nicht verzichtbar sind. Was hält Kuratoren hier zu Lande davon ab, statt dessen „Man nannte es den Großen Krieg“ (Regie.Mario Monicelli) zu zeigen, der zu den verblüffendsten Auseinandersetzungen mit dem Ersten Weltkrieg zählt? Wahrscheinlich ist es die von Generation zu Generation tradierte Ignoranz der deutschen Filmgeschichtsschreibung, die in der italienischen Komödie immer nur den Verrat des Neorealismus sehen mochte, nicht aber dessen volkstümliche Fortsetzung.
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