Gespenstersommer
In »Miss Hokusai«, der an diesem Wochenende anlief, erzählt der Maler einer vornehmen Kurtisane, wie er Künstler wurde. Eines Tages lösten sich seine Hände vom Körper und gingen als frei schwebende Schemen auf Entdeckungsreise. Die schöne Dame wird Nacht für Nacht von einem ähnlichen Phänomen heimgesucht: Ihr Gesicht erhebt sich im Schlaf, um ein Eigenleben zu entwickeln.
Später, auf dem Heimweg, eröffnet Hokusai seinen Gefährten, in Wahrheit habe er das gar nicht erlebt. Die eigensinnigen Hände stammten vielmehr aus einer Geistergeschichte. Insgeheim erzählte er sie der Kurtisane nur, um ihre Zunge zu lösen. Offenbar ahnte er, was sie heimsucht. Von ihrem Leid wird sie durch die Beichte allerdings nicht geheilt. Im Gegenteil, sie hört Stimmen, die aus seinem Gemälde »Das Jammern der Toten« nach ihr rufen und in die Welt der Kobolde und Dämonen entführen. Die Episode aus Keiichi Haras wundersamem Animationsfilm demonstriert, wie vertraut der Maler mit der Welt des Übersinnlichen ist, wo der Tod nur ein Schlaf ist, aus dem man jederzeit erwachen könnte.
Wer sich mit japanischen Geisterfilmen beschäftigt, begibt sich nicht nur geographisch in eine ferne Welt. Die Koexistenz des Übernatürlichen ist hier gleichsam Bestandteil des kulturellen Wissens. Diesem reichen Genre widmet das Japanische Kulturinstitut in Köln gerade einen Filmzyklus, der »Wohlige Schauer des Grauens« heißt. Am heutigen kalendarischen Sommerbeginn läuft sie zwar schon seit einigen Tagen, aber sämtliche gezeigten Filme werden bis zum 25. Juli wiederholt. Die Reihe stimmt gewissermaßen auf die Saison der Geister ein, die der japanischer Folklore zufolge im Hochsommer liegt, um das Totenfest herum, was seit der Nachkriegszeit traditionell auch der Starttermin für Geisterfilme ist. Der Adjektiv im Reihentitel ist nicht nur mit Blick auf die kühlen Kinosäle klug gewählt.
Etwa um die Jahrtausendwende trat der »J-Horror«, für den vor allem Kyoshi Kurosawa und Hideo Nakata stehen, ja verstärkt ins weltweite cinephile Bewusstsein getreten; mich brachte eine exzellente Reihe der »Viennale« auf seine Spur. Er trägt das Übernatürliche in banale Ambientes und zugleich in die Zentren des modernen Lebens. Zur Übertragung, Infizierung bedient sich das Entsetzliche neuer Kommunikationsmedien. Die serielle Form – von »Ring« beispielsweise gibt es diverse Sequels und Prequels - unterstreicht, dass die Heimsuchungen nicht auf Anhieb zu bannen und das Unbehagen nicht durch die Katharsis eines einzelnen Films therapierbar ist. Es sind eher Grusel-, als Horrorfilme, die sich eines langsam aufbauenden Spannungsbogens bedienen. Ich fürchte, dieser Boom ist vorüber. Eine faszinierende Renaissance stellte er indes allemal dar.
In Köln lässt sich nach den Wurzeln forschen. Es laufen Klassiker aus der großen Blütezeit des Genres (nebst einem Nachzügler von 1982). Sie wurden nicht nur von charismatischen Handwerkern wie etwa Nobuo Nakagawa, gedreht. Auch große Meister wie Kenji Mizoguchi und Masaki Kobayashi arbeiteten auf diesem Erzählterrain. Als Kobayashis »Kaidan« (Kwaidan) 1965 in Cannes den Spezialpreis der Jury gewann, herrschte große Verblüffung, dass dieses als einzigartiger Kunstfilm wahrgenommene Meisterwerk tatsächlich aus einer populären Erzähltradition hervorging.
Während die neuen Filmen vorrangig der Konflikt zwischen Technologie und Natur verhandeln, führen im klassischen Kino meist die Geschlechterverhältnisse zur Wiederkehr des Verdrängten. Die Geister sind fast ausschließlich weiblich (die modernen Filme sind da etwas flexibler) und sühnen die Sünden, welche die Männer aus Unachtsamkeit oder Rücksichtslosigkeit an ihrem Geschlecht begangen haben. Im Diesseits wurden die Frauen um ihr Leben, ihre Biographie betrogen. Die postume Ermächtigung hat bisweilen auch eine gesellschaftliche Konnotation. Es wird Vergeltung geübt für erlittenes Unrecht, Deklassierung und Ausbeutung; nicht selten sind es Samurai, an denen Rache für eine Demütigung verübt werden muss. Diese Sehnsucht nach einer weiteren Teilhabe am Leben hat auch eine faszinierend erotische Komponente. In Mizoguchis »Ugetsu Monogatari« (Erzählungen unter dem Regenmond) erlebt Männer köstliche Liebesnächte mit verlockenden Untoten. Sie erweisen sich beim Geschlechtsakt als sozusagen vollgültiger Ersatz. In »Kwaidan« werden so gar Kinder gezeugt.
Darüber hinaus werden den Geistern mannigfache, keineswegs nur erschreckende Funktionen angetragen. Oft erfüllen die unerlösten Seelen eine moralische Verpflichtung, im eigenen Namen oder zu einem höheren Zweck. Ihr Erscheinen ist eine Mahnung. Sie sind Botschafter der Wahrheit, decken verborgene, infame Vergehen auf. Zuweilen rächen sie eine Schuld, die Generationen zurückliegt. Allerdings dienen sie den Lebenden mitunter auch als Ratgeber. Dass in Köln auch »Jigokumon« (Das Höllentor), der erste japanische Farbfilm läuft, hat mich so sehr erstaunt, dass ich ihn mir gestern noch einmal ansah. Bei Teinosuke Kinugasa kommen tatsächlich keine Geister vor. Der Film zeigt vielmehr das Vorspiel, die Anbahnung eines Verhängnisses. Allerdings wird der Missetäter bereits am Totenbett des Opfers von Einsicht und Reue ergriffen, sodass es einer sühnenden Wiederkehr nicht mehr bedarf.
Das Auftreten japanischer Geister ist nicht zwangsläufig an das Dunkel der Nacht gebunden. Es kann sich im nüchternen Tageslicht vollziehen. Das schafft Vertrautheit. Die Geister werden, im Gegensatz zum westlichen Kino, auch kaum je als Doppelbelichtungen eingeblendet. Tendenziell besitzen sie die gleiche stoffliche Dichte wie die Lebenden. Einem Medium wie dem Kino, das sich am Konkreten reibt, kommt das entgegen. Die Geister treten selbstbewusst auf. Wenn sie behaupten, real zu sein, lügen sie nicht unbedingt. Die Doppelwertigkeit dieser Gestalten, im Jenseits zu existieren und im Diesseits in Erscheinung zu treten, gewinnt visuell selbstverständlich eine übersinnliche Komponente: Ihr Aggregatzustand ist variabel, widerruflich, sie können schweben oder Wände durchdringen. Oft wird ihnen die Stimme entzogen oder sie sprechen mit der einer anderen Figur. »Kwaidan« buchstabiert beinahe systematisch durch, wie unfassbar diese Erscheinungen sein können. Dass Geister einer vielleicht prekären, aber durchaus gleichberechtigten Realitätsebene angehören, zeigt sich eindrücklich in Akira Kurosawas »Rashomon« (läuft nicht in Köln, ist aber ein bezeichnendes Beispiel), wo die Zeugenaussage der Ermordeten zur Beweisaufnahme herangezogen wird.
Diese Akzeptanz nimmt nicht wunder in einer Kultur der Ahnenverehrung, wo das Vergangene in den Nachkommen fortwirken darf und fest in den Alltag eingebunden ist. Ein Religionshistoriker würde wahrscheinlich den Shintoismus als spirituelle Wurzel des Genres benennen, eine nicht monotheistische, animistische Religion ohne schriftlich fixierte Gebote. Die Natur ist beseelt, verfolgt also Absichten. Flora und Fauna gebieten Respekt. Schlangen, Füchse oder Katzen werden oft zu Agenten des Jenseitigen oder Gefährten auf dem Wege. Der prächtige »The Mansion of the Ghost Cat« von Nagakawa ist ein einschlägiges Beispiel, wobei anzumerken ist, dass die Katze in der Folklore als niederes Tier angesehen und den unteren Klassen zugeordnet wurde. Aber auch im Westen fragt man sich ja gern, was sie wohl im Schilde führen.
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