Was sich verändert, bleibt: »Crossing Europe« Filmfestival Linz
Langzeitdokumentation von Helena Treštíková
»Crossing Europe«, das Filmfestival im österreichischen Linz, beeindruckte auch 2016 wieder mit Neuentdeckungen, dazu mit einer bewegenden Retrospektive, die das Zurückschauen zum Prinzip erhob
Veränderungen haben es oft an sich, dass man sie erst im Nachhinein bemerkt. Erst in zehn Jahren wird man wissen, ob Netflix und all das, wofür der Firmenname synonym geworden ist – Streaming statt Kinobesuch, Serien statt Filme, allein gucken statt ausgehen mit anderen – tatsächlich die »moviegoing experience« verändert hat. In der Gegenwart gibt es dafür nur »so ein Gefühl« und ein paar Hinweise. Ein solcher Hinweis ist zum Beispiel die zunehmend wichtige Rolle der Filmfestivals: In der Flut dessen, was man alles schauen könnte, im Kino oder online, erlauben Festivals nicht nur intensive Kinoerlebnisse mit vollen Sälen und Publikumsdiskussionen, sondern werden auch immer mehr zu Gradmessern und Ratgebern. So gilt für die Preisträgerfilme gerade eines Filmfestivals wie »Crossing Europe« in Linz, dass man an ihnen nicht vorbeikommt, wenn man sich für das junge europäische Kino interessiert. Mit den Hauptpreisen für Visar Morinas »Babai« und für Rachel Langs »Baden Baden« wurden außerdem auch in schöner Weise die beiden Themen abgedeckt, die Europa in der Gegenwart am meisten beschäftigen: »Babai« erzählt eine Migrantengeschichte, »Baden Baden« handelt vom typisch unbestimmten Dasein einer 20-Jährigen zwischen Schule und Berufsfindung. Interessanter Weise spiegelten sich dagegen in der Dokumentarfilmsektion weniger die aktuellen Themen als die aktuellen Ästhetiken: Der Preisträgerfilm »Rio Corgo« des Regieduos Maya Kosa und Sérgio da Costa überschreitet mit seiner stillen, verharrenden und poetischen Beobachtung eines alten Weltenwanderers einmal mehr die Genregrenzen von Dokumentarischem und Fiktionalem, von Information und suggestiver Narration.
Doch so interessante Neuentdeckungen sich in Linz erneut machen ließen, das zentrale Ereignis des Festivals war doch wieder das »Tribute«, die kleine Retrospektive, die in diesem Jahr der tschechischen Dokumentarfilmerin Helena Třeštíková gewidmet war.
Es passt in die neuen Zeiten, dass Třeštíkovás Werk keine eindeutige Bestimmung zwischen Kino und Fernsehen mehr braucht. Viele ihrer Filme sind fürs tschechische Fernsehen produziert, entwickeln aber bei der Vorführung im Kino noch einmal eine besondere Kraft. Und bestens passt auch, dass das Zurückblicken sozusagen Třeštíkovás Spezialität ist. Für eines ihrer Hauptwerke, den Zyklus »Ehegeschichten«, begann sie mit dem Filmen 1980 auf dem Standesamt in Prag, um die frisch Vermählten über fünf Jahre hinweg für eine erste Sendung zu begleiten. 1999 setzte sie das Projekt fort und drehte erneut einige Jahre mit den mittlerweile im besten Alter befindlichen Eheleuten. Dass bei der Beobachtung über 20 bis 30 Jahre hinweg etwas Spannendes herauskommt, versteht sich eigentlich von selbst, zumal wenn unterdessen wie im Fall Tschechiens auch noch ein großer gesellschaftlicher Umbruch stattgefunden hat. Dennoch macht Helena Třeštíková aus ihrem an sich schon spannenden Material noch einmal etwas Besonderes. Ihr großes Geheimnis dabei ist interessanterweise das Wahren der Distanz. Sie tritt ihren Protagonisten nie zu nahe, manchmal hätte man sich als Zuschauer mehr neugierige Fragen gewünscht, aber bald wird klar, dass es ohnehin kaum etwas Intimeres gibt, als Menschen über 30 Jahre hinweg altern zu sehen.
Wie Veränderungen wirklich aussehen, das lässt sich wunderbar klar in Třeštíkovás Filmen ablesen: Aus süßen Kindern werden trotzige Teenager und dann eigensinnige Erwachsene; die »samtene Revolution« – sie zeigt sich vor allem als Flut von Gütern, mit denen sich die Wohnungen nach 1989 füllen. Sicher, Berufs- und Karrierepläne scheitern oder verwirklichen sich, aber die Protagonisten selbst, diese einst jungen Menschen von 1980 auf dem Prager Standesamt, sie bleiben erstaunlich wiedererkennbar durch all die Jahre. Und genau das lässt hoffen.
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