Wie dosiert man Mahler?
Nein, das Adagietto ist heute nicht dran. Es steht zwar auf dem Probenplan, worauf der eifrige Assistent beharrt, aber die Dirigentin hat sich umentschieden. Flugs geht es zum Trauermarsch zurück. Der ist stürmischer, wild bewegt, vehementer. Das Orchester soll am Maximum spielen und nicht nachlassen im Tempo.
So erleben wir die Dirigentin Nina (Maren Eggert) in »Kein Wort« zum ersten Mal bei der Arbeit mit den Musikern: konzentriert, streng, zielstrebig. Bei der Arbeit haben wir sie schon die ganze Zeit über gesehen, zuerst mit Kopfhörer am Klavier, dann im Gespräch mit Intendanz und Assistenten im Konzerthaus, wo sie an diesem Tag früher erscheinen muss, weil sich die "Leute von Sony" angekündigt haben. Dirigentin zu sein, bedeutet so viel mehr als nur das Studium der Partitur und die Proben mit dem Orchester. Es ist ein Beruf, in dem man stets unter Druck steht und jederzeit verfügbar sein muss. Ninas Handy klingelt ohne Unterlass, das wird praktisch den ganzen Film über so gehen. Als ihr Sohn Lars (Jona Levin Nicolai) in der Schule unter mysteriösen Umständen aus dem Fenster stürzt, muss sie innehalten: nachlassen im Tempo.
Aber zurück zum Auftakt: Weshalb fällt das Adagietto aus Gustav Mahlers Fünfter Symphonie aus dem Programm? Es ist wahrscheinlich das berühmteste Stück des Komponisten, auf jeden Fall unter Kinogängern. Schuld daran trägt Luchino Visconti, in dessen »Tod in Venedig« es sechsmal erklingt. Seither gehört die insistierende, auch träumerische Trauer der Passage gewissermaßen zum Grundbestand des Kinos. Hanna Slak, die Regisseurin von »Kein Wort«, weiß das. Sie spart es nur auf; es ertönt zu gegebener Zeit. Die Fünfte hat ohnehin gerade ein wenig Konjunktur im Kino. Auch Cate Blanchett spielt sie in »Tár« ein, weil "DG" (die Deutsche Grammophon) eine Box mit ihren Mahler-Interpretationen herausbringt. Es dauert in Todd Fields Film freilich eine Ewigkeit, bis wir die Dirigentin tatsächlich dabei sehen, wie sie die Partitur mit den Berliner Philharmonikern erarbeitet. Sie ist ein Star, da tritt das Eigentliche in den Hintergrund. Eingangs spricht sie bei einem Podiumsgespräch des "New Yorker" ausführlich und huldvoll über ihre Affinität zu Mahler, hebt die Komplexität der Fünften hervor, die Mahler seiner Frau Alma gewidmet hat. Ihr Interesse ist also zunächst biographisch, entzündet sich am inneren Kampf des Komponisten, an der schwelgerisch verzehrenden Hochglut des Künstlers. Womöglich nimmt sie Maß an dessen Überbietungsehrgeiz.
Beinahe hätte ich von der Fünften als dem Stück der Stunde im Kino geschrieben, aber das wäre zu großspurig. Auch in »Joanna Mallwitz – Momentum« spielt Mahler eine wichtige Rolle, Günter Attelns Dokumentarfilm klingt jedoch mit seiner Ersten Symphonie aus, die den Ehemann der Dirigentin am Schluss zu Tränen rührt. Bei diesem Komponisten und seinen Interpretinnen sind unweigerlich große Emotionen im Spiel. Hanna Slaks Film ist sozusagen der Anti-Tár, der kleinere Film, der im Schatten des vermeintlich größeren (auf jeden Fall längeren) Phänomens herauskommt. In ihm spielt die Fünfte eine weit integralere Rolle, sie zieht sich, von Satz zu Satz, durch den gesamten Film.
Wie »Kein Wort« mit der Musik und dem Beruf seiner Heldin umgeht, ist Gegenstand eines Gesprächs, das ich mit Bettina Böhler geführt habe. Sie hat den Film geschnitten. Ihr Name ist Ihnen gewiss aus den Vorspannen einiger der besten deutschen Filme der letzten Jahrzehnte vertraut, insbesondere verbindet sie mit Christian Petzold eine lange, innige Zusammenarbeit. Ich schätze nicht zuletzt die Hingabe, mit der sie an ihre Arbeit herangeht und über ihren Beruf spricht.
Bei »Kein Wort« war die Musik zuerst da, berichtet sie, die Regisseurin wollte eine Geschichte für sie finden. Ein thematischer Bezug drängt sich hier auf. Trauer und Verlust sind ein Grundimpuls der Symphonie, denn Mahler hatte nicht nur einige seiner Geschwister früh verloren, sondern auch ein Kind. "Die Einsätze waren schon im Drehbuch genau festgelegt", erklärt Bettina, "die Musik sollte später auch die Landschaft begleiten, die winterliche Rauheit der Insel, auf der der zweite Teil unseres Films spielt." Mein Eindruck war, dass sie unterstreicht, dass Nina zuerst nicht von der Arbeit loskommt, dass diese sie verfolgt sie auf der Reise, die sie mit ihrem entfremdeten Sohn unternimmt. Später dann „gehört“ sie beiden Figuren, fand ich. Meine Interpretation muss aber nicht unbedingt die der Filmemacherinnen gewesen sein. "Im Sonnenuntergang am Meer dirigiert sie tatsächlich allein eine Passage", pflichtet mir Bettina immerhin bei, "und am Ende findet eine Auflösung statt, eine Versöhnung."
Ihre Arbeit bestand wesentlich zuletzt darin, Mahler zu dosieren. Ein Drehbuch ist ja immer Theorie, die mit Emotionen gefüllt werden soll. Die Reihenfolge der Passagen stand darin fest, aber ihre Dauer musste eben auch im Schnitt funktionieren, zum Gesamtbogen passen und zum Rhythmus der einzelnen Szenen. „Also musste ich die Kapazität reduzieren. Ursprünglich sollten die Stücke oft früher einsetzen und länger andauern“, erklärt Bettina, "beispielsweise während der ersten Wanderung in das Dorf auf der Insel. Aber in solcher Ausführlichkeit wird die Musik häufig zur bloßen Illustration." Sie sollte das Erzählte nicht verdoppeln, sondern selbst Erzählung sein.
Die Häufung von Dirigentinnen und Dirigenten (Maestro" , "Sterben") im Kino verblüfft auch Bettina: Warum plötzlich sie und keine Regisseure oder Schriftsteller? Mir erscheint das erst einmal als eine reizvolle, weil nicht ganz so naheliegende Verschiebung filmischer Nabelschau. Wobei ich denke, »Sterben« wäre kein essentiell anderer Film geworden, wenn Lars Eidinger einen Theaterregisseur gespielt hätte. Mich beschäftigt mithin die Frage nach der erzählerischen Notwendigkeit dieser spezifischen künstlerischen Disziplin. In »Maestro« ist sie zwingend, es geht nicht ohne, schließlich handelt es sich um ein Leonard-Bernstein-Biopic. "Es ist ein Beruf, der sehr fordert", stellt Bettina fest, es gibt oft auch die Sorge, ersetzt zu werden. In »Kein Wort« lauert, wie in »Tár«, ein Konkurrent auf seine Chance. Am Ende akzeptiert Nina, dass sie bei den Proben von einer Assistentin (Yura Yang) vertreten wird, die sie zuvor noch nicht reif genug fand. Mir gefiel dieser überraschend gewährende Zug der Figur. "Das ist auch das einzige Mal, dass Nina lächelt", stimmt Bettina zu, "da fällt die Anspannung von ihr ab, als sie merkt, dass sie auch abgeben kann." Ihr eignet eine gewisse Demut. Nina ist eine Künstlerin, die sucht- "Auch die Suche ist etwas Echtes", sagt Mallwitz in »Momentum«. Nina eignet in „Kein Wort“ eine gewisse Demut. »Tár« scheint demgegenüber schon alles gefunden zu haben. Das macht die Figur nicht zwangsläufig uninteressanter, verlangt aber eine andere, melodramatische Dynamik: die des Hochmuts vor dem Fall.
Auf eine maßgebliche Frage kommen Bettina und ich am Ende zu sprechen: Wie stellt man diesen Beruf glaubhaft dar? Maren Eggert hat sich vor den Dreharbeiten intensiv mit Yura Yang vorbereitet, die im realen Leben eine gefeierte Dirigentin ist. "Das ist ja ungeheuer physisch", meint Bettina, "das Dirigieren ist wie ein Tanz, der ganze Körper macht mit." Gab es im Drehbuch oder früheren Schnittfassungen noch mehr Szenen, die Nina beim Dirigat oder in den Proben zeigen? Nein, erwidert sie, die Probenszene war ursprünglich nur länger, aber funktionierte vom Rhythmus her nicht. "Es ging darum, einen Eindruck von Ninas Professionalität zu gewinnen", erklärt Bettina, "und nicht darum, die Musik zu bebildern." Es kam schließlich darauf an, zu erzählen.
Sie merken schon, das ist ein Thema, das ich in einem Eintrag nicht annähernd in den Griff bekomme.
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