Filme in der 1. Person Einzahl

Francois Truffaut, der heute vor 40 Jahren starb, ist vielleicht der einzige Regisseur, dessen Filme schon Kindern einen Eindruck davon vermitteln, was Autorenschaft im Kino ist. Sie haben ein zentrales Thema, den Widerspruch zwischen vorläufigen und endgültigen Gefühlen, das er jedes Mal neu ausformulierte. Und sie zeigen, dass das Kino keine Flucht aus der Wirklichkeit bedeuten muss, sondern ein Mittel ist, das Leben zu meistern.

Das war eine ermutigende Botschaft in meinen Anfangsjahren der Cinéphilie und ist es noch heute, auch wenn sie ihre Widerhaken hatte: Die Frage, ob Filme nicht doch wichtiger sind als das Leben, zog sich unvermindert durch sein Werk. Ich vermute, deshalb stellte er meinen ersten intensiven Zugang zur französischen Literatur (wäre ich ohne Antoine Doinels kleinen Altar in „Sie küssten und sie schlugen ihn“ je zu Balzac gelangt - und in der Folge zu Flaubert, Stendhal und Maupassant?) und dem französischen Kino dar. Beides musste man bei ihm ja nicht trennen. „Jules und Jim“ und „Zwei Mädchen aus Wales und die Liebe zum Kontinent“, seine Adaptionen von Romanen des vorher unbekannten Henri Pierre Roché, treten elegant den Beweis an, dass die Liebe zur einen die zum anderen nicht zwangsläufig verraten muss. Der Akt des Schreibens nimmt in seinem Kino, angefangen mit den beharrlich scheiternden Versuchen des kleinen Antoine, Schulaufsätze zu verfassen, eine zentrale Rolle ein. Seine Figuren halten ihre Erfahrungen in Briefen, Tagebüchern und Romanen fest und lassen sie dadurch andauern. Dominik Graf hat sich bestimmt daran erinnert, als er „Die geliebten Schwestern“ drehte.

Wo wir gerade bei seinem Einfluss sind: Seine Erzählhaltung, die Charaktere niemals mit Herablassung zu zeichnen, brachte ihm Bewunderer und Nachahmer in aller Welt ein. Seine Lust am Stilbruch prägte das New Hollywood nachhaltig; namentlich das Werk von Arthur Penn und Paul Mazursky. So unterschiedliche Regisseure wie Leos Carax, Arnaud Desplechin, Cédric Klapisch und Tsai Ming-liang beziehen sich auf ihn. Quentin Tarantino zitiert ihn in „Kill Bill“, und noch in Noah Baumbachs „Frances Ha“ zeigen sich Spuren seines Stils und seiner Themen. Truffaut wurde der erfolgreichste unter den Protagonisten der Nouvelle Vague, weil seine persönlichen, intimen Filme die zugänglichsten und lebendigsten der Bewegung sind.

Sie wirken so selbstbewusst, dass man auf Anhieb nicht merkt, was für ein großer Zweifler er war. Zum Beispiel haderte er mit der Farbe im Kino.„Zwei Mädchen aus Wales und die Liebe zum Kontinent“ wirkt, als läge ein dunkler Schleier über den kräftigen Farben. Auch vor Schwarztönen hatte er Angst; um sie endgültig zu überwinden, drehte er seinen letzten Film „Auf Liebe und Tod“ in Schwarzweiß. Vor allem fürchtete er, sich selbst, seine Geldgeber und das Publikum zu enttäuschen. Die größte Angst vorm Scheitern erfasste ihn bei „Die letzte Metro“ („Wer will einen Film über einen Kerl sehen, der sich zwei Stunden in einem Keller verstecken muss?“), der dann sein größter Kassenerfolg wurde. Im Gegenzug gewinnen seine bei ihrem Start ungeliebten Filme, etwa „Das Geheimnis der falschen Braut“ oder „Das grüne Zimmer“, mit jedem Jahr an Faszination.

Diesen Unwägbarkeiten begegnete er strategisch. Die Inszenierung sollte stets eine Kritik am Drehbuch sein und der Schnitt eine Kritik am gedrehten Material. Dieses Prinzip gibt auch seiner Karriere ihren besonderen Rhythmus. Die Ausgelassenheit eines Films sollte die Wehmut des vorangegangene kompensieren. Er brauchte diese Spannung: Bei der Arbeit an dem düsteren „Das Leben der Adele H.“ dachten er und sein Drehbuchautor Jean Gruault unablässig an Chaplin-Filme; jede Sequenz korrespondiert mit einem Moment aus dessen Stummfilmen. Auf diese Weise stellte jeder Film für ihn einen Neuanfang dar: Er drehte mit einem jugendlichen, demütigen Enthusiasmus, der ihn bis zum Ende nicht verlassen sollte. Eigentlich ging dieser stolze Autodidakt mit jedem Film erneut in die Lehre. Nach dem Welterfolg von „Jules und Jim“ sortiert er sich plötzlich ganz neu, mit „Die süße Haut“ beginnt er systematisch Hitchcocksche Erzähltechniken zu erproben. „Die Braut trug Schwarz“ und andere legt er als eine Wette mit dem Genrekino an: Wie viele persönliche Obsessionen, wie viel Lyrik und Humor lassen sich in dessen Konventionen hineinschmuggeln?

Im Nachhinein jedoch wird deutlich, dass sein Werk nicht von gegensätzlichen, sondern komplementären Tendenzen geprägt ist. Die Filme fügen sich zu Zyklen zusammen – etwa den über Antoine Doinel, in dem man gleichzeitig das Heranreifen der Figur, ihres Darstellers und Regisseurs verfolgen kann – oder antworten einander, oft Jahre später.Kein Wunder, dass er einige der schönsten Bildungsromane der Filmgeschichte drehte. Das Kino war für den jungen Francois ein Ort der Zuflucht. Das Heranwachsen ist in seinen Filmen seither emphatisch mit der Aneignung von Kultur verbunden. „Der Wolfsjunge“ ist eine der berückenden Chroniken gelungener Erziehung im europäischen Kino.

Die Truffautsche Harmonie der Widersprüche lässt sich linear und online auf arte entdecken, der Sender widmet ihm eine kleine Reihe (https://www.arte.tv/de/videos/RC-020118/francois-truffaut/). Heute Abend läuft „Geraubte Küsse“, der mit einer Hommage an die Cinémathèque Francaise und ihren Gründer Henri Langlois beginnt, welcher eines der schönsten Chansons von Charles Trenet wehmütig sekundiert. Hier hat Antoine das Glück, der bezaubernd lebensklugen Madame Tabard (Delphine Seyrig) zu begegnen, in die ich mich beim ersten Sehen augenblicklich verguckte und seither auch in dieser Hinsicht einer von Truffauts Maximen folgte: „Man muss treu bleiben.“ Nach „Die amerikanische Nacht“ sei er endgültig mit seiner Lebensweise versöhnt und mit sich selbst im Reinen, schrieb er 1974 einem Kritiker. Sein Film über das Filmemachen demonstriert auf triumphale Weise, wie sehr Truffauts Leidenschaft fürs Kino eine Öffnung für das Leben war. Nicht von ungefähr fängt die Lange Nacht, die Josef Schnelle für den Deutschlandfunk gestaltet hat, mit diesem Film an, schwungvoll begleitet von Georges Delerues ebenso triumphaler Musik (https://www.deutschlandfunkkultur.de/lange-nacht-francois-truffaut-filmemacher-dlf-kultur-01cfe428-100.html.). Die Sendung ist unbedingt empfehlenswert, da Josef ausführlich glühende Truffaut-Kenner zu Wort kommen lässt, darunter Robert Fischer und Hans C. Blumenberg.

 

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