Eine Kreisparabel
Als ich »Agora – Die Säulen des Himmels« zum ersten Mal sah, störten mich die Momente, in denen die Kamera die Erdkugel aus kosmischer Perspektive betrachtet. Ihre Häufung erschien mir prätentiös. Anderthalb Jahrzehnte später sehe ich es anders, denn in Alejandro Amenábars Film werden Weltbilder verhandelt. Nach seiner Heldin sind übrigens ein Asteroid, ein Planet sowie ein Mondkrater benannt.
Man weiß wenig über Hypatia von Alexandria. Von den Werken der Astronomin, Mathematikerin und Philosophin ist keines überliefert. Anhaltspunkte geben nur Briefe, in denen sie erwähnt wird. Verschiedene Quellen geben unterschiedliche Lebensdaten an. Sie muss irgendwann in der Mitte des 4. Jahrhunderts geboren sein, es ist nicht einmal verbürgt, ob sie 415 oder 416 hingerichtet wurde. Das Kino kann sie als Projektionsfläche nehmen. Sie hat das Recht, eine Figur der Fiktion zu werden. Zur feministischen Heldin taugt sie allemal. Rachel Weisz ist die ideale Besetzung für diese Rolle, ihr liegen Gelehrsamkeit und Protest. In Amenábars Film tritt sie als Fürsprecherin der Toleranz auf.
Das Alexandria des ausgehenden vierten und beginnenden fünften Jahrhunderts ist ein Brennpunkt der Wissenschaften und ein Schmelztiegel der Religionen. Zu Beginn stehen die Statuen der verschiedenen Kulturen noch. Das Christentum ist mehr oder weniger römische Staatsreligion, daneben existiert eine jüdische Gemeinde und es gibt noch Splitter griechischer und ägyptischer Kulte. Diese werden bald zu Heiden erklärt. Frieden erhascht der Film nur kurz. Es brodelt in der Stadtgesellschaf:. Man muss wehrhaft werden. Hypatia ist überzeugt, dass sie alle mehr Dinge verbinden als trennen. (Dieses Diktum werden im Verlauf andere Figuren plagiieren, aber halbherzig und vergeblich.) Im Serapeum von Alexandia diskutiert sie mit ihren Studenten über verschiedene Weltbilder. Ist die Erde flach oder ein Kasten? Kreisen die anderen Planeten um sie? Der Kosmos braucht ein Zentrum, sonst herrsche nur Chaos. Im Kern nimmt die Astronomin die kopernikanische Wende vorweg, als sie zu der Erkenntnis gelangt, dass die Erde sich um die Sonne dreht.
Währenddessen bricht draußen das Chaos aus. Die Christen verüben erste Massaker an den Juden. Sie drohen, die Bibliothek des Serapeums zu erstürmen. Rasch müssen Schriften, Heiligtümer und andere Artefakte, muss das Kulturerbe vor der Zerstörung gerettet werden. Der Kreis, den Hypatia eingangs für die perfekte Form hält (später neigt sie der Ellipse zu), bestimmt auch die Figurenkonstellationen. Mehrere Männer kreisen um Hypatia, ihr Begehren zielt auf ihre Schönheit und auf ihren Geist. »Agora« ist ein Sandalenfilm über das Abenteuer des Denkens, des Wissenserwerbs. Sein Zentrum Hypatia bleibt intakt, aber der Fokus wechselt agil. Immer wieder greift er die kosmische Perspektive auf, bewegt sich vom Größten zum Kleinsten, nicht im Sinne Hitchcocks, sondern als Anschauung der Welt. Amenábar entrollt ein intimes Zeitpanorama.
Am Ende des ersten Teils feiert die Intoleranz einen schwarzen Triumph. Im zweiten eskalieren die Konflikte. Er beginnt einige Jahre später. Hypatia setzt ihre Forschungen fort. In dem neuen, bigotten Klima erfordert das Mut. Der Bischof Kyrill schürt Hass. Die Agora, das öffentliche Zentrum der Zivilgesellschaft, ist ein Trümmerfeld. Es herrschen Zwietracht und Zerstörung. Die Sprache der Mäßigung ist verstummt. Aus Nachbarn sind Todfeinde geworden. Menschenmassen beharren darauf, dass es nur einen Gott gibt. Amenábars Epos verweist nicht explizit auf Lessings Ringparabel, aber variiert sie voller Verzweiflung. Auf Geheiß Kyrills werden die Frauen zur Stille verdammt. Er bezichtigt Hypatia der Gottlosigkeit, die hoch geachtete Gelehrte wird nun als Hexe verfolgt. Am Motiv des Kreises hält Amenábar fest. Es ist zentral, steht für eine Eintracht, die einmal existierte. Es schließt auf: »Circles open circles.«
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