Wie im Fluge
Sie sind ein Zankapfel. Großstädter ärgern sich über ihren Kot auf Gebäuden und Fahrzeugen und schimpfen sie fliegende Ratten. Im Kino hingegen sind Tauben meist positiv besetzt, als Friedensboten, zuverlässige Briefträger oder Beleg für Marlon Brandos Zartgefühl. Aber selbst John Woo, bei dem sie stets wie weiße Seelen aufstiegen nach Schießereien, scheint das Vertrauen in ihre Anmut und Symbolkraft verloren zu haben und hat sie in "Silent Night" durch einen roten Ballon ersetzt. Ob es Lea Najjar gelingt, das Federvieh in "Kash Kash" zu rehabilitieren?
Ihr Film, den die Regisseurin heute Abend im Kino Wolf in Neukölln persönlich vorstellt (auch noch anderswo, lieber Felix?), beginnt in der Vogelperspektive. Allerdings nicht im freien, majestätischen Flug über Stadt und Land, sondern in der Gefangenschaft eines hellen, lichtdurchlässigen Sackes. Das wirft augenblicklich die entscheidende Frage auf: Werden sie Subjekt oder Objekt des Films sein? In Beirut sind sie Spielmasse, Einsatz und Gewinn bei einem eigentümlichen Wettkampf, den eine verschworene Gemeinschaft von Züchtern tagtäglich über den Dächern austrägt. Jeder hat seinen eigenen Schwarm und das Ziel ist es anscheinend, den eigenen mit Tauben aus denen der anderen zu vermischen. Das geht weitgehend friedlich ab, auch wenn einer von ihnen behauptet, er würde die so erbeuteten Tiere schlachten, wenn sie zum „Feind“ gehören. Glauben muss man das nicht, denn die Protagonisten des Films sind einfallsreiche Maulhelden.
Erst einmal betrachtet Najjar also eine urbane Subkultur, in der Freundschaft, Rivalität und mitunter auch echte Tierliebe herrscht. Es ist ein merkwürdiger Haufen, der die Treue und Loyalität der Tiere preist. Ohne Federn können wird nicht leben, lautet ein Dialogsatz des Films, der auch als dessen Untertitel fungiert. Für das Spiel ist es wichtig, dass die Tauben „stark“ sind. Offenkundig verkörpern sie etwas, das den Menschen fehlt. Das Land und die Gesellschaft, die die Regisseurin aus dieser Perspektive erkundet, haben mächtig Federn gelassen; nicht erst seit dem verheerenden Brand im Hafen von Beirut vor drei Jahren. Die Wirtschaft befindet sich im freien Fall und die Regierung kümmert sich um nichts.
Neijjar will die „wahre Geschichte“ Beiruts erfahren. Zunächst zögern ihre Gesprächspartner – sie sind allesamt männlich, es ist ein Sport für Jungs, zu dem aber ein kleines Mädchen Zugang haben will -, Auskunft über die Verhältnisse zu geben. Allmählich bricht das Unbehagen hervor. Einer der Züchter, der eigentlich Fischer ist, berichtet von den Todesfelsen vor dem Ufer Beiruts, wo sich immer wieder Selbstmörder in die Tiefe stürzen. Einen konnte er retten, er weiß gar nicht recht, wie ihm das gelungen ist. Früher war das Land weltoffener, meint ein anderer. In den Radionachrichten wird die Weltbank zitiert, die davor warnt, dass die Hälfte der Bevölkerung an der Armutsgrenze lebt. In den Supermärkten kämpfen die Menschen um Lebensmittel. Es gärt im Libanon, der Flug der Tauben könnte eine Revolution beflügeln. Für die Züchter ist es ein Land, das man besser verlassen sollte. Es ist ein altes Land, sagte ein alter Armenier zum Barbier, und der pflichtete ihm bei, es liegt auf dem Sterbebett. Die Fluchtpunkte stehen schon fest, Frankreich und Frankreich befinden sich ganz oben auf der Liste.
Bis dahin dienen die Dächer mit den Taubenschlägen als Rückzugsorte, als Bastionen der Vergessenssuche und Weltflucht. Das Hobby ist aber auch verrufen. Das Taubenzüchten sei eine Sünde, sagt der Onkel zu dem Mädchen, das gern dazugehören würde; ein Kulturkampf. Kostspielig ist es übrigens auch, denn der Preis fürs Futter ist enorm gestiegen. Ver- und aufgescheucht werden die Schwärme mit Orangen, welche die Züchter mit Schleudern in die Lüfte schnellen lassen. Besser, als Geld für eine Frau auszugeben, meint einer von ihnen. Ein anderer verbringt eine letzte Schonfrist vor seiner Hochzeit auf dem Dach, um mit den Kameraden bei einer Wasserpfeife zu plaudern. Nejjar bekommt viel heraus über die Menschen, während ihr Blick ganz konzentriert bleibt.
Die Tauben spielen dabei prächtig mit. Für die Filmkamera sind sie schließlich seit jeher die Vogelart par excellence. Sie sind wendig, allein oder im Schwarm, auf erhabene Weise. Gestern sah ich Fernando di Leos Gangsterfilm „Milano Kaliber 9“, wo sie zu Tausenden die Domplatte bevölkern und sich, von den Passanten aufgescheucht, unvergleichlich elegant im Schwarm emporsteigen. Dergleichen hat man auf dem Markusplatz in unzähligen Venedigfilmen gesehen. In „Kash Kash“ erobern sie sich die Freiheit, von der ihre Züchter träumen, immer nur für eine kurze Zeit. Unweigerlich kehren sie zurück an den Ort, an dem sie geboren wurden. Die weißen stehen für Frieden und Liebe, sagt einer, der dann jedoch stolz zeigt, welch vielfarbige Schattierungen die Gefieder in seiner Zucht hat. Einmal erschüttert eine Explosion im Hintergrund die Stadt, ein Nachbeben des Hafenbrandes, der aus Gier, Krruption und Verantwortungslosigkeit entbrannte. Die Druckwelle lässt Fenster und Türen im Haus eines der Taubenspieler zerbersten. Ohne sie ist es kein Zuhause mehr. Der Fischer hat den Bürgerkrieg überstanden, aber eine solche Explosion noch nicht erlebt. Die Tauben ficht das nicht an. Am Ende nimmt Nejjar erneut ihre Perspektive ein, nun begleitet die Kamera sie in den Himmel, der für einen Moment keine Grenzen hat.
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