Die Vermessung des Niemanslands
Die zuletzt genannten Filme demonstrieren, wie bei Jack Fisk die Landschaft zum Szenenbild werden kann. Er stellt aber nicht nur eine pastorale Vergangenheit wieder her, sondern erzählt insgeheim die Architekturgeschichte der USA nach. Auch da geht es um die Rekonstruktion dessen, was verschwunden ist.
Zuerst sind die Bauten etwas Neues und Fremdes; in der Wildnis sind sie voraussetzungslos. Sie werden nicht auf Dauer angelegt oder, um mit dem Architekten Frei Otto zu sprechen, keine Vermutungen der Zukunft. In »There Will Be Blood« jedoch zeichnet Fisk systematisch eine Verstetigung nach. Aus Zelten und Holzbaracken werden in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts massiv gebaute Wohnsitze. Der Ölsucher Daniel Day-Lewis residiert 1927 in einer prächtigen, feudalen Villa. Diese sieht man nur als Interieur, aber die Tiefe des Salons, Arbeitszimmers und nicht zuletzt der Kegelbahn lassen die Ausmaße erahnen.
In »Heartbeat« schlägt er ein anderes Kapitel der Urbanisierung der USA auf: Die Erfindung der Vorstadt nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie vollzieht sich im Vorspann in einer Montage historischer Fotografien, angefangen mit dem Baugrund, dann vom dem Ausheben der Fundamente, der Errichtung usw. Eine Totale entdeckt uns dann die Uniformität einer solchen Retortenstadt. Der zweite Akt spielt in einem gediegenen Suburbia, in dem der Konformitätsdruck nicht nur eine Frage der Fassaden und genau abgemessenen Rasenflächen. Fisks Dekor erzählt von der tristen Verbürgerlichung des Paares Nolte & Spacek, in das erst wieder ein Element der Anarchie einkehren muss.
Zwischen den Dreharbeiten des Films und seiner Handlung liegen drei Jahrzehnte. In »The Master« von P.T. Anderson blickt Fisk weitere drei Jahrzehnte später auf diese Zeit zurück, weitgehend in Interieurs, die zwischen Intimität und Öffentlichkeit schillern. Außenszenen spielen vor allem in Vorstädten, wo die Zeit vielleicht doch noch den Atem angehalten hat. Bemerkenswert an Fisks Arbeiten mit Anderson ist freilich noch ein anderer Aspekt: Die Geschichten finden ihren Abschluss in Räumen der Macht. Das Arbeitszimmer des Sektenführers Philip Seymour Hoffman ist nicht weniger imposant wie das des Ölmagnaten Day-Lewis, wenngleich unter anderen Vorzeichen. Er muss sich nach England absetzen, wo er eine neue Schule gegründet hat. Sein Schreibtisch steht vor einer riesenhaften Fensterwand in einer ansonsten leeren Halle, deren Höhe einschüchternd an eine Kirche gemahnt. Das Motiv der breiten Fensterfront wiederum greift Fisk in »Flowers of the Killer Moon« auf. Im Artikel der New York Times erfährt man ausführlich, was es damit auf sich hat (https://www.nytimes.com/2023/10/05/magazine/jack-fisk-movie-sets.html). Auch dies ein Raum der Macht: der Überwachung all dessen, was auf den Straßen der Boomtown passiert. Fisk überraschte Scorsese damit, dass er zwei Schauplätze kombinierte, die Billardhalle und der Barbershop. Wie er den Drehort fand und nutzte, ist ein Beispiel für seine Intuition und Vorstellungskraft. Außerdem seines Erinnerungsvermögens: Seine Mutter nahm ihn in der Kindheit oft in einen Friseursalon mit, der mit einer Pool Hall kombiniert war. Im Katasteramt des Drehortes in Oklahoma fand er heraus, dass zwei von drei Barbershops in den 1920ern so ausgestattet waren.
Solch historische Geistesgegenwart entwickelt man vielleicht am Ehesten, wenn man sein Metier gleich sofort in der Praxis erlernt, als ein on the job training. Als Fisk zu Beginn der 1970er Jahre seine ersten Schritte darin unternimmt, ist er 26. Vorerst hat er keine Chance, in die Gewerkschaft aufgenommen zu werden, die noch ein ziemlich geschlossener Verein ist. Das Durchschnittsalter der Mitglieder der Art-Directors-Gilde beträgt 65 Jahre. Üblicherweise fängt man als Zeichner an und arbeitet sich nach einem Jahrzehnt zum Assistenten hoch. Bis 1978 arbeitet Fisk nur in Non-Union-Produktionen. Von Terrence Malick erhält er bei »Badlands« kein fertiges Drehbuch und der will im Gegenzug keine seiner Zeichnungen sehen: Der Regisseur hält sich die Richtungen offen, in die sein Film gehen wird. Er vertraut auf Fisks Instinkt, der zuallererst darauf zielt, die Charaktere kennenzulernen. Was sagt das Tapetenmuster über sie aus, warum steht der Tisch an einer bestimmten Stellen? Fisk stellt sich vor, dass Sissy Spacek eine Sammlerin von Alltagsgegenständen und ihr Mädchenzimmer ein Ort der Träumerei ist. Der Grundriss scheint bizarr zu sein, kein-Vier-, sondern ein Fünfeck. Ihr Bett ragt als eine Diagonale in den Raum hinein. Später, als Spacek und Martin Sheen auf der Flucht sind, überrascht Fisk seinen Regisseur damit, dass er für sie ein Baumhaus als Versteck bastelt (auch das eine Kindheitserinnerung). Er findet rasch heraus, dass er für ihn Szenenbilder bauen muss, die Blickachsen eröffnen. Zugleich erdet er Malicks Filme, gibt dem freien, assoziativen Fluss der Montage eine szenische Basis. Das kann eine Entgrenzung sein: In »The Tree of Life« entfernt er aus der Vorststadtsiedlung, in der Jessica Chastain und Brad Pitt leben, einfach alle Gartenzäune.
In den 1970ern muss Fisk mit geringen Budgets zurechtkommen. Sein Leitstern ist Edward Hopper, an dessen Maxime „Go minimal“ er sich regelmäßig erinnert. »Heartbeat« (Herzschläge) zeigt, wie besessen er von dem Maler ist. Seine Entwürfe sind in dessen Stil gehalten, nehmen bereits den Lichteinfall vorweg: von den Fenstern leicht schräg in die Räume hinein. Einige Szenenbilder zitieren ungeniert Hopper, etwa die Tankstelle, in der Nick Nolte und John Heard ein paar Vorräte stibitzen. Sogar Sissy Spaceks Frisuren erinnern an Hoppers Bilder. Dessen Prinzip der Aussparung passt zum gesellschaftlichen Status der Figuren, denn als Bohemiens haben sie anfangs nicht die Mittel, um ihre Wohnungen mit mehr als dem Nötigsten einzurichten. Zudem sind die Interieurs in tiefen Schatten getaucht. Die Soziologie geht im Atmosphärischen auf.
»Heartbeat« mutet an wie eine Apotheose und zugleich wie ein Exorzismus. Fisk löst sich allmählich aus dem Einfluss Hoppers. (Allerdings beginnt nach diesem Film auch die lange Parenthese in seiner Karriere: Fisk schlägt 1980 das Angebot Warren Beattys aus, die Szenenbilder für »Reds« zu entwerfen, weil er sich der Regie zuwenden will.) Eine Grundierung seines späteren Werks wird Hopper jedoch bleiben, denn er ist der Maler der Einsamkeit. Die allein stehende Villa in »Days of Heaven« ist das eindrücklichste Beispiel für die splendid Isolation, die in Fisks Szenerien herrscht. Die Figuren finden sich ab »Badlands« regelmäßig in einem Niemandsland wieder, das meilenweit von den nächsten Siedlungen entfernt liegt. Ihr Element ist die Weite, die Leere. Sie suchen Abstand, sind freiwillig verwaist. Im Kern ist praktisch jeder seiner Filme ein Road Movie, eine Apologie der Freiheit und Bindungslosigkeit. Erstaunlich, dass dieser zweifellos gesellige Mensch ein solch hellsichtiger Poet amerikanischer Einsamkeit ist.
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