Gilles' Liste
In der Kurzgeschichte ist es noch ein Kapo, dessen Gunst er sich erschleicht. Im Film wird daraus ein SS-Offizier. Damit mehren sich die Chancen aufs Überleben. Der Kapo ist die kleinere, vorsichtigere, eventuell vernünftigere Variante. Wird mit dem Aufstieg in der Lagerhierarchie die Fallhöhe größer?
Anders gefragt: Überbietet »Persischstunden« seine Vorlage, die Erzählung »Erfindung einer Sprache« von Wolfgang Kohlhaase? Als der Film vor zwei Jahren auf der Berlinale lief, ging er an mir vorüber. Ich machte mir keine Gedanken über seine literarische Abkunft. Jetzt habe ich ihn gesehen, weil Nahuel Pérez Biscayart die Hauptrolle spielt, über den ich eine Nahaufnahme fürs Dezemberheft schreiben sollte. Die Neugier auf Kohlhaases Geschichte war plötzlich groß. Was blieb im Film von ihr übrig? Prosa hatte ich noch nicht von ihm gelesen.
Seine Hauptfigur ist ein holländischer Physikstudent, der nur einen Nachnamen hat: Straat. Eines Tages hat er das Glück, von der Arbeit im Steinbruch zum Küchendienst im Lager abkommandiert zu werden. Sein Ungeschick beim Kartoffelschälen weckt die Aufmerksamkeit des Kapo. Der trägt keinen Namen, war zuvor Zuhälter in Hamburg und will nach dem Krieg ein Geschäft in Teheran eröffnen. Die Begegnung mit einem Studierten weckt Argwohn und Komplexe in seinem schlichten Gemüt. Straat behauptet eher nebenbei, dass er Persisch spricht. Der Köder ist ausgelegt. Durch den Sprachunterricht verändert sich beider Leben. Straat muss nicht mehr hungern und kann seine Schicksalsgenossen mit Resten versorgen. Seine Privilegien bergen ein Risiko, sie erheben ihn über die anderen. In das Dasein des Kapo wiederum weht ein Hauch von Bildung hinein.
In der Neuausgabe der Erzählungen, die im letzten Jahr bei Wagenbach erschien, nimmt die Titelgeschichte "Erfindung einer Sprache" gerade einmal 12 Seiten ein. Die genügen dank Kohlhaases knappem Stil. Mir gefiel die bekümmerte Lakonie, mit der den Alltag im KZ skizziert augenblicklich, der gedämpfte, demonstrativ pathosfreie Ton. Straats Erinnerungen an die ferne Heimat bündelt er in einem einzigen Satz, der verschlungen, anschaulich und sinnlich ist (wunderschön prägnant: „der andere Geruch der Mädchenklasse“), ein junges Leben steckt darin, das bisher nur ein Versprechen blieb. In sechs Worten, von denen nur zwei unerwartet sind, vermittelt er, wie abgetrennt Straats Innenleben vom Rest der Welt ist: "Er erinnert sich: Man hat April."
Erstmals veröffentliche Kohlhaase die Sammlung von Erzählungen 1977, als er längst ein gestandener Drehbuchautor war. Aber er verfasste sie entschieden als Autor von Prosa. Gewiss, passagenweise erzählt er szenisch, aber vor allem verdichtet sich in „Erfindung einer Sprache“ eine mentale Stimmung. Für ein Drehbuch kann das allenfalls ein Ansporn, ein Trampolin sein. Vorsichtshalber nennt der Vorspann von »Persischstunden« nicht nur die Vorlage, sondern endet mit dem obligatorischen "Inspired by true events". So ausbaufähig ist die Grundsituation eines hochstaplerischen Sprachunterrichts ja fürwahr nicht. Bei Kohlhaase klingt sie undramatisch aus, er rekapituliert beinahe gelassen das Danach. Natürlich erwartet man, dass irgendwann ein echter Perser auftaucht und der Schwindel auffliegt (bei Kohlhaase entpuppt er sich als Inder).
Ich fragte mich vor dem Sehen ohnehin, was das Drehbuch an Komplikationen aufbieten müsste, um auf eine Filmlänge von 127 Minuten zu kommen. Es macht eine Reihe von Nebenschauplätzen auf (Rivalitäten, Eifersucht und Neid innerhalb der Lagerbesatzung), die nicht sämtlich uninteressant sind. Vor allem aber rüstet es die Grundkonstellation dramaturgisch auf. Szenarist Ilya Zofin ist ein emsiger Einfädler. Aus dem jungen Holländer wird ein belgischer Rabbinersohn namens Gilles (eben Nahuel Pérez Biscayart), der auf dem Transport zu einem Zwischenlage die Hälfte seines Brotes gegen ein Buch in Farsi eintauscht. Mit dem Tauschpartner entspinnt sich ein Dialog über das Achte Gebot ("Das können wir jetzt vergessen,"), der möglicherweise die ins Ethische gewendete Zuspitzung eines Gedankens ist, der dem erschöpften Straat kommt: "Das Gesetz von der Erhaltung der Energie gilt ja nicht mehr." Der Identitätstausch vollzieht sich nicht so beiläufig wie in der Kurzgeschichte, vielmehr entkommt Gilles einem Erschießungskommando, indem er sich als Perser ausgibt. Auch die Beweggründe des SS-Offiziers Koch (Lars Eidinger) stellen eine pragmatische Variante gegenüber der Vorlage dar. Er träumt davon, in Teheran nach dem Krieg ein Restaurant zu eröffnen. Der Schauplatz der Lagerküche wird damit zwingender. Indes fällt Gilles noch eine weitere Aufgabe zu. Da Kochs Sekretärin darin ziemlich unbegabt ist, soll er fortan Buch führen über die Neuzugänge im Lager.
Hier wird es allmählich interessant. Gilles muss ein System finden, um sich die erfundenen Farsi-Vokabeln merken zu können. Dafür benutzt er die Namen aus dem Register. Kohlhaase geht an dieses Problem linguistisch heran. Straat verwendet und verdreht Silben, sodass er beispielsweise aus dem Wort „Krematorium“ ein ganzes Dutzend Vokabeln gewinnt. Erzählerische Ökonomie in Reinform. Einerseits ist die fiktive Sprache eine Belastung und ständige Gefahrenquelle für ihn, zugleich aber auch eine dankbare Herausforderung an seinen Intellekt. Er will der Fiktion ein System geben. Kohlhaase entwickelt das mit der Freiheit des Schriftstellers, dem die Schilderung der Gedankengänge genügen kann. Zofin muss dafür eine szenische Lösung finden. Gilles teilt also Suppe an die Insassen aus, die er nach ihrem Namen fragt. Das wirkt berührend als persönliche Ansprache, ist aber zunächst Kalkül. Jeder Name gebiert eine neue Wortschöpfung. Aber es schleichen sich moralische Konsequenzen ein. Der privilegierte Gilles erträgt das Leiden seiner Kameraden immer schlechter, er geht Risiken ein, um sie mit Konserven zu versorgen (die Koch im Gegenzug gönnerhaft als Bonus an seine Untergebenen verteilt).
Im Bonusmaterial der Blu-ray, die ich sah, interpretiert Eidinger den Unterricht als ein falsches Spiel, das seine Figur durchschaut. Das passt nicht zur Schlusspointe des Films, als Koch verblüfft dreinschaut. Tatsächlich gewinnt die Lüge hier eine ganz andere Relevanz, die vergleichbar ist mit dem moralischen Parcours der Hochstapler bei Billy Wilder, die in ihre Rolle hineinwachsen und so geläutert werden. Zofin und Regisseur Vadim Perelman haben eine Moritat über Vertrauen, Überleben und Solidarität im Sinn. Einmal will Gilles den Platz mit einem Todgeweihten tauschen (die Zwei haben offenkundig Costa-Gavras' „Amen“ gesehen). Eine noch prägendere Inspiration geht aber von »Schindlers Liste« aus, den Kohlhaase beim Schreiben natürlich noch nicht kannte und der eventuell ohnehin keine Spuren bei ihm hinterlassen hätte. Nach der Befreiung des Lagers wird Gilles von einem amerikanischen Offizier befragt. (Das ist kein Spoiler, denn der Film fängt mit dem Verhör im Off an und stellt somit sicher, dass Gilles ein Überlebender ist.) Der Offizier will wissen, ob er sich an Namen von Lagerinsassen erinnert. Er antwortet: "Ich kann ihnen 2840 nennen." Dieser Moment besitzt ein ungeheures Pathos, das nicht nur der großartig zurückgenommenen Darstellung von Nahuel Pérez Biscayart geschuldet ist. Er bekräftigt die Botschaft des Films mit einer Erhabenheit, die er sich bis dahin nicht verdient hat. Ist das ein Verrat an Kohlhaase, dem derlei Ergriffenheit fremd ist? Wenn ja, dann ein großartiger.
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