Ein Akzentsetzer
Es gibt einen Moment in der Eröffnungssequenz von »Il traditore«, wo wir glauben, unseren Ohren nicht trauen zu dürfen. Er ist kurz, fast könnte man ihn überhören. In die sizilianische Folklore, die zum Fest der Santa Rosalia gespielt wird, bricht brüsk ein fremder Klang ein. Für eine Sekunde verstummen die Mandolinen und eine tragische Violine macht ihnen den Platz streitig. In diesem Augenblick entdeckt Tommaso Buscetta seinen Sohn am Strand im Drogendelirium.
Marco Bellocchios Inszenierung erhebt zwar bereits genug Einwände gegen die Idylle, die auf dem Gipfeltreffen der Cosa Nostra herrscht. Aber sein Komponist Nicola Piovani verdichtet dieses schwelende Unbehagen blitzartig. Sein Einsatz nimmt gleichsam einen chirurgischen Eingriff am musikalische Ambiente vor. Er zieht einen tiefen Riss durch die Fassade. Die Partitur besitzt plötzlich eine Härte, die sonst selten von dem Komponisten verlangt wird.
Der Soundtrack des Films ist überdies eine verblüffend heterogene Angelegenheit. Das fällt besonders auf, wenn man dem Abspann lauscht, der dessen Summe zieht. In Brasilien erklingt dortige Folklore, beklemmend kontrapunktisch eingesetzt in den Folterszenen; während des Prozesses wird der Gefangenenchor aus »Nabucco« zitiert und später »Macbeth«, was thematisch ebenso naheliegend ist; zwischendurch ist auch ein Stück von Nils Frahm zu hören. Piovanis eigene Kompositionen müssen sich nicht gegen das fremde Material behaupten, sondern kommunizieren selbstbewusst und neugierig mit ihm.
Sie schleichen sich – abgesehen von der Strandszene und dem Filmtitel, dessen Einblendung er knapp, aber wuchtig unterstreicht - eher in den Film hinein, als Sphärenklang etwa, wenn Buscetta während des Abschiebefluges nach Italien unversehens seine zwei ermordeten Söhne erscheinen. Piovanis Musik stößt gewissermaßen im Schutz der Bilder vor. Auch sie sie selbst ist heterogen. Während einer Rückblende taucht ein Jazzrhythmus auf, ab und an schaffen Streicher und Bläser jene typische Piovani-Dringlichkeit, welche dann eskaliert, als Buscetta im Zeugenstand zusehends nervöser wird. Tatsächlich ähnelt kein Stück einem anderen, jeder Einsatz ist anders, kein Thema zieht sich durch diesen Film, für dessen Protagonisten es keine Heimat gibt.
»Il traditore« ist die erste Zusammenarbeit des Regisseurs mit dem Komponisten seit fast vier Jahrzehnten. Bellocchios Werk lässt sich unterteilen in verschiedene Phasen, die mit bestimmten Musikern verknüpft sind. Zu Beginn seiner Karriere ist das Ennio Morricone, von den frühen 1970ern bis 1982 ist es dann Piovani, in den letzten Jahren hat er vornehmlich mit Carlo Crivelli gearbeitet. Ähnliches ließe sich auch über Piovanis Filmographie sagen, in ihr verlaufen die Perioden aber parallel. Die Partnerschaften wechseln einander nicht ab, sondern setzen sich fort. 1968 hat er mit Studentenfilmen begonnen, auf der Höhe der Zeit. Dann wurde er zum Hauskomponisten der Brüder Taviani. Fast zeitgleich avancierte er zu dem musikalischen Partner, auf den Fellini nach dem Tod Nino Rotas so verzweifelt gesucht hatte. Dann verbünden sich Nanni Moretti und Roberto Begnini mit ihm, für »Das Leben ist schön« gewinnt der Komponist seinen ersten Oscar; ich nehme an, weil die Musik so positiv klingt. Später entdeckt ihn Philippe Lioret für seine aufgeklärten Melodramen. Eine Filmographie, die fast 200 Titel umfasst, weist notwendig viele Farben auf: Auch eine Handvoll deutscher Kinder- und Familienfilme finden sich darin, um das Sams und Räuber Hotzenplotz.
Ich selbst habe ihn mit »Die Nacht Von San Lorenzo« entdeckt, an den ich gerade wieder denken musste, weil ich für das nächste epd-Heft über den letzten gemeinsamen Film der Tavianis schrieb und weil er am 10. August spielt, dem Beginn der Perseidenschwärme (von denen ich auch in diesem Jahr leider keinen sah). Eingangs klingt die Musik wie eine ferne Erinnerung – der Film ist als Rückblende zum Weltkrieg erzählt - , evoziert eine Idylle, die bald keinen Bestand mehr hat. Als Nostalgiker hatte ihn ja auch Fellini verpflichtet, für den er selbstlos das Erbe Rotas antrat, wobei seine Partituren nicht so flächig angelegt sind, sondern pointierter. In »Die Nacht von San Lorenzo« schlägt das Idyllische sogleich in die Dramatik des Hauptthemas um. Oft reißt er das Thema nur kurz an, andere gesellen sich hinzu, werden zuerst nur angerissen, bevor sie sich entfalten dürfen. Piovani untermalt nicht, sondern setzt Akzente. Seine Musik stößt Bewegungen an. Sie schreitet voran, ebenso entschlossen wie die Einwohner der Toskana, die vor den Deutschen und Schwarzhemden flüchten. Es ist Aufbruch in der Musik Piovanis, eben jene Dringlichkeit, bei der die Streicher wachsam zerren, worauf dann ein Piano antwortet. Damals wie jetzt fand ich, dass Piovani auf eine Überhöhung zielt, die nie ironisch wirkt. Seine Musik weht aus einer anderen Zeit in den Film hinein, ist aber weniger Erinnerung, als Reflexion der Vergangenheit.
Für Nanni Moretti schreibt er Melodien, etwa für »Wasserballl und Kommunismus«, die eine fast kindliche Zartheit besitzen. Sie sind prägnant, aber auch über ihnen liegt ein Filter des Nostalgischen. Mit Moretti entwickelt er eine Lust, die Instrumente ein wenig anders klingen zu lassen, als man man gewohnt ist. Auch bei diesem Regisseur steht er immer wieder vor der Aufgabe, anderes Material einzufügen, vor allem heimische Canzone, aber beispielsweise auch Brian Eno. Die Partitur für »Das Zimmer des Sohnes« ist ganz außergewöhnlich. Anfangs lächelt die Musik geradezu, wenn sie den harmonischen Alltag der Psychoanalytikerfamilie beschreibt. Süßlich klingt sie nicht, die Idylle ist erfüllt und authentisch. Dann ereignet sich nach einer halben Stunde die Katastrophe, der Sohn verunglückt beim Tauchen. Die Trauer braucht keine musikalische Wucht, sie ist sichtbar genug. Piovani umfängt die Hinterbliebenen mit einer Gedankenmusik, die sie von einer Situation zur anderen hinüber geleitet. In dieser sachten Kontinuität liegt noch kein Trost, aber sie beharrt sanft darauf, dass das Leben weiter geht. Sie wirkt komplizierter, nicht in ihrer Struktur, vielmehr in ihrem Klang. Die hohen Töne, zu denen das Piano bisweilen findet, bestürzen mich immer wieder. Dennoch respektiert Piovani, was man in dieser Situation sucht: Frieden.
Philippe Liorets Begeisterung für den Komponisten habe ich an dieser Stelle schon einmal erwähnt ("Wie es euch gefällt" vom 9. 11. 2017). Die Partitur zu »Die Frau des Leuchtturmwärters« hebt ungewohnt großflächig an, schon während des Vorspanns legt sie einen Teppich der Erinnerungen aus: dieselbe unironische Überhöhung wie bei den Tavianis. Klarinette, Klavier und Akkordeon kommen miteinander ins Gespräch. Das klingt nach Folklore, ist es aber nicht: Es ist die Alltagsmusik der Figuren und ihrer Zeit, wiederum besiegeln Piovanis Klänge eine Rückblende um mehrere Jahrzehnte. Bei »Welcome« war ich gespannt, ob der Film überhaupt Musik brauchte. Der sozialrealistische Gestus schien ihrem Einsatz zu widersprechen. Die Tonspur ist reich genug an Geräuschen, angefangen vom Meeresrauschen bei Calais. Nach zehn Minuten kommt die Musik dann doch ins Spiel, als kurzer Spannungsakzent beim ersten Versuch des jungen kurdischen Flüchtlings Balil, im Lastwagen heimlich nach Großbritannien zu kommen. Beim zweiten Versuch wird sie epischer, gewinnt die vertraute Dringlichkeit. Seine Partitur eröffnet einen weiten Resonanzraum: Bei der Einschiffung nach Dover mischen sich diskret ethnische Klänge hinein, die an seine verlorene Heimat gemahnen. Sie haben nichts gemein mit den folkloristischen Klagegesängen bei Hans Zimmer, dessen ausbeuterische Humanismus ist ihnen fremd. Den Ansatz zum Epischen kontrastiert Piovani mit einem intimen Klavierthema. Es führt die diversen Konflikte auf eine wehmütige Unruhe zurück, auf das Ringen darum, die persönliche und soziale Isolation zu überwinden. In »Welcome« ist kein Platz für Nostalgie, dafür versteht dieser Komponist aber ebenso viel von Sehnsucht.
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