Vergiftetes Narrenparadies II
Richard Morgan hat für die »Washington Post« das Archiv Woody Allens, das 1980 als Vorlass an die Universität Princeton ging, durchforstet. In den 56 Kartons entdeckte er mannigfache Belege dafür, wie besessen der von Teenagern ist. Zudem sieht er Verdacht der Frauenfeindlichkeit in zahlreichen Entwürfen von Kurzgeschichten und Drehbüchern bestätigt. Das summiert sich zu einem Charakterbild voller Gereimtheiten. Phantasien, die flüchtig skizziert sind, nimmt er beim Nennwert. Auch wenn manche verwerflich sein mögen, erbringen sie doch keinen Nachweis anstößiger Neigungen, geschweige denn dafür, dass ihr Verfasser in der Realität als Scheusal gehandelt hat.
Richard Brody hingegen unterzieht im »New Yorker« die tatsächliche Filmographie Allens einer gründlichen Prüfung. Gleich zu Beginn bekennt er, dass er Dylan Farrow Glauben schenkt. Als treuer Anhänger der Autorenpolitik will er Werk und Künstler um keinen Preis voneinander trennen. Für ihn steht außer Frage, dass Allens Persönlichkeit sich in seinen Filmen offenbart. Das erfüllt ihn zugleich mit Abscheu und Bewunderung dafür, wie deutlich Allen gewisse Obsessionen thematisiert. Mit der ihm eigenen Sorgfalt legt Brody in »Watching myself watch Woody Allen films« dar, wie sich eine Litanei der Opferfiguren durch sie zieht und macht Strafe und Straflosigkeit als zentrale Themen namhaft. »Verbrechen und andere Kleinigkeiten« ist da ein Schlüsselfilm. Manche seiner Analysen sind so verstörend wie die Erkenntnisse, zu denen Morgan in der »Post« gelangte.
Auch diesseits des Atlantiks wird die Debatte natürlich intensiv geführt. Noch stärker als in Frankreich, wo viele Allen-Filme mehr Zuschauer hatten als in den gesamten Vereinigten Staaten, trifft sie in Deutschland einen Nerv. Erinnern wir uns nur daran, wie der melancholische Tiefsinn von »Der Stadtneurotiker« und »Manhattan« ihn zu einem Säulenheiligen der Feuilletons werden ließ. Dieser wunderbar gescheite Autodidakt erschien als ein Philosoph von hohen Graden, der zu einer intellektuellen, wenn nicht gar moralischen Autorität avancieren durfte. Welcher andere US-Filmemacher wäre auf die Idee gekommen, einem Film den Arbeitstitel »Anhedonia« zu geben, den klinischen Ausdruck für die Unfähigkeit, Freude zu empfinden? Dass Allen eine eminent jüdische Mentalität verkörperte, war ein Glücksfall für die deutsche Kultur.
»Das soll jetzt alles nicht mehr gelten?« fragte Peter von Becker vor einer Woche ratlos im Berliner »Tagesspiegel« angesichts des brüsken Sockelsturzes. Der liebenswürdige Verlierer von einst (der, das darf man nicht beschönigen, nie einen nur romantischen, sondern auch ausbeuterischen Blick auf Frauen warf) soll sich nun in ein Monstrum verwandelt haben? »Man will derlei gar nicht so genau wissen«, gesteht er kleinmütig und zeiht Allens Angreifer der Denunziation und Wichtigtuerei. So einfach ist das Unbehagen nicht vom Tisch.
Während Allens Kino für von Beckers Generation eine unverzichtbare Lebensbegleitung war, ist es vielen jüngeren Kritikern längst lästig geworden. Wiederum im »Tagesspiegel« behauptete Andreas Busche zum Deutschlandstart von »Wonder Wheel«, er habe nie eine gute Frauenrolle geschrieben. Kennt Busche »Innenleben« und »Eine andere Frau« nicht, hat er »Blue Jasmine« nicht gesehen? Gewiss, allein der Umstand, dass Allens Filme so häufig Frauennamen im Titel tragen (»Annie Hall«, »Alice«, »Melinda & Melinda«), macht ihn noch nicht zu einem untadeligen Feministen. Und er zeichnet keineswegs nur erfreuliche Frauengestalten. Mich hat jedoch oft beeindruckt, wie er sich diesen Figuren näherte, die starke Gegenspielerinnen, gar Widersacherinnen waren: mit durchdringender, verschmitzter Neugierde.
Ich selbst haderte bisher aus anderen Gründen mit Allen. Der letzte seiner Filme, der mich wirklich bewegt und rundum beglückt hat, war »Hannah und ihre Schwestern«. Der liegt schon mehr als drei Jahrzehnte zurück. Danach wollte sich der alte Zauber nur noch sporadisch einstellen (wobei ich übrigens finde, dass zu viele Magier bei ihm vorkommen). Seine Filme prunkten mit netten Ideen, an einigen hatte ich großes Vergnügen, aber meist das Gefühl, es mit hübschen Nebenwerken zu tun zu haben. Das Versprechen auf Anhedonia löste er immer seltener ein, den Rat der Marsmenschen aus »Stardust Memories«, »Tell funnier jokes!«, auch nicht mehr so oft. Unter Niveau amüsierte man sich bei ihm nie.
Mir fällt kein nachfolgender Allen-Film ein, der von einer solch authentischen, warmen Nostalgie durchdrungen ist wie »Radio Days« von 1987. Allerdings wurde diese Nostalgie bald zum Grundproblem: Allen hörte auf, ein Zeitgenossene zu sein. Seine Filme spielen in einem Narrenparadies, das unberührt ist von jedweder gesellschaftlichen Gegenwärtigkeit. Das kann witzig sein, wenn die Filme tatsächlich im frühen 20. Jahrhundert angesiedelt sind. Und sehr schal, wenn sie im Hier und Jetzt spielen. Dass er irgendwann New York verließ und anfing, in Europa zu drehen, änderte wenig an der stickigen Weltferne. Sein Blick auf London, Paris, Barcelona und Rom ist nicht nur ein strikt touristischer. Er orientiert sich an der Baedecker-Ausgabe von 1956.
Was macht ein Filmemacher, wenn er in einer – von heute aus betrachtet: frühen – Phase bereits seine Reife erreicht hat? Er knüpft an Gelungenes an und sucht sein Heil in Variationen. Im Grund fängt sein Spätwerk bereits 1984 mit dem wunderschönen »Broadway Danny Rose« an. Ich hätte allerdings nie gedacht, dass es so lange dauern würde. Im System Woody Allen fehlte ein Korrektiv. Er hatte auch, nachdem seine Mäzene United Artists und Orion untergegangen waren, immer noch Carte blanche. Er hielt den engen Rahmen seiner Budgets ein und drehte in der Regel die Filme, die seine Fangemeinde erwartete. Dieses System stand manchmal auf der Kippe (man erinnere sich an den Rechtsstreit mit seiner zeitweiligen Produzentin Jean Doumanian, bei dem die Forderungen das Einspiel ihrer gemeinsamen Filme wohl bei weitem überschritten), stand aber nie wirklich infrage. Welchen Anreiz hat ein Filmemacher in derart abgesicherter Routine, sich weiter zu entwickeln? Gewiss, seine europäischen Eskapaden brachten frischen Wind. Der verdankte sich aber nicht der Herausforderung, sich in die Mentalität anderer Gesellschaften zu versenken. (Er nahm sie nicht an.) Den bescherte ihm vielmehr das Temperament seiner Darstellerinnen: Scarlett Johansson, Penelope Cruz, Marion Cotillard und andere. Die männlichen Rollen waren meist auch nicht schlecht besetzt. Im Gegensatz zu seinem Alter Ego Clint Eastwood war es mir zusehends lieber, wenn er selbst nicht mehr mitspielte. Man lacht nicht gern über einen alten Mann.
Eine der nassforschen Schlüsse, die Morgan aus seinen Recherchen im Allen-Arcvhiv zieht, lautet, er würde immer nur den gleichen Film drehen: über einen älteren Mann, der einer viel zu jungen Frau nachstellt. Dafür lassen sich zwar hinreichend Gegenbeispiele finden. Aber bleiben wir für einen Moment bei dieser mulmigen Faszination. Oft besitzen diese jungen Frauen nämlich die Gabe, die Männer grundlegend infrage zu stellen. Mariel Hemingway wirkt am Ende von »Manhattan« viel reifer als die Allen-Figur. Sie ist zu Weichenstellungen für die Zukunft fähig, während er im Status Quo verharrt. Juliette Lewis hat eine großartige Szene in »Ehemänner und Ehefrauen«, wo sie ihren unschlüssig lüsternen Mentor (wiederum Allen) nach Strick und Faden entlarvt. Ein kleines Kabinettstück der Dekonstruktion. In »Midnight in Paris« führt Marion Cotillard (dem allerdings nicht viel älteren) Owen Wilson vor Augen, wie banal seine Nostalgie nach dem Paris der 1920er ist. Diese Frauenfiguren waren eine kluge Herausforderung, ein notwendiger Einwand, das willkommene Korrektiv einer Weltsicht. Manchmal konnte Allen über sich selbst hinauswachsen.
Ich hoffe, auch wenn die letzten Jahrzehnte meine Bewunderung etwas mürbe gemacht haben, dass er weiterhin die Chance dazu bekommt. Amazon überlegen gerade, ob sie seinen nächsten Film überhaupt herausbringen. Und wahrscheinlich wird er vorerst kaum noch prominente Darsteller finden, die sich mit ihm einlassen wollen. Das muss kein Schaden sein. Ich fand das Casting seiner Filme ab den 90ern ohnehin oft sehr opportunistisch. Es tauchten lauter Namen auf, die eben gerade der flavor of the month waren. Sie genossen das Privileg, in einem Woody-Allen-Film mitzuspielen; ungeachtet der Entfaltungsmöglichkeiten, die ihnen die Rollen tatsächlich boten. Heute wären zugkräftige Namen für die Finanzierung seiner Filme wichtiger denn je. Aber neu erfinden kann Allen sich erst, wenn er akzeptiert, dass sich das Privileg nun umkehren muss.
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