Alles und nichts
Auf den Fotos, die Hiroshi Sugimoto seit den 70er Jahren von amerikanischen Filmpalästen und Drive-in-Kinos gemacht hat, erstrahlen die Leinwände in gleißendem Weiß. Dabei sind sie keineswegs leer. Dieses Weiß ist vielmehr das Konzentrat einer Fülle von visuellen Informationen.
Es zieht die Summe all der Affekte und Sensationen, aus denen ein Film besteht. Sehnsucht und Aufruhr, Leidenschaft und Enttäuschung, Glück und Schmerz sind in diesem Weiß gegenwärtig. Sugimoto erzielt diesen Effekt, indem er mit extremen Langzeitbelichtungen arbeitet: Er öffnet die Blende zu Beginn einer Filmvorführung und schließt sie am Ende. Prinzipiell ist in diesen Bildern also jeder Film gleichwertig. Oder anders gesagt: Prinzipiell ist ihnen der Film gleichgültig. Sugimotos Projekt besitzt mithin enormen philosophischen Reiz. Immerhin wirft es die Frage auf, was nach der Flut der Bilder übrig und im Gedächtnis bleibt. Nicht von ungefähr lernte ich es im Rahmen eines Filmfestivals kennen, in einer Ausstellung der "Viennale" des Jahres 2001, die sich damit eine tückische Metapher für ihr eigenes Vorhaben einhandelte. Allerdings heißt der Zyklus, der auch als Fotoband erschienen und leicht im Netz zu finden ist, "Theaters" und rückt somit von den Filmen ab.
Die Leinwand, die unweigerlich Blickfang und Zentrum der Kompositionen bildet, ist keine Projektionsfläche, sondern illuminiert den Raum und wirft dabei ein Schlaglicht auf Architektur- und Kulturgeschichte; der Fotograf fängt ihr Umfeld in gestochener Schärfe ein. Zuschauer gibt es darin nicht zu sehen, mir zumindest ist nur eine Ausnahme bekannt, die sogleich bezeichnend ist. Einmal hat Sugimoto auf diese Weise Isabelle Huppert fotografiert. Sie ist eigentlich nicht zu erkennen, nur ein Hinterkopf und Schultern sind in der ersten Reihe zu sehen.Wir müssen dem Fotografen schon vertrauen, dass es wirklich Isabelle Huppert ist. Sie wirkt in diesem Licht keineswegs verloren. Wir nehmen ihre Einsamkeit vielmehr als ein Privileg wahr. Womöglich ist es eine Privatvorführung, auf die sie wartet. Oder sie verweilt nach der Vorstellung noch einen Augenblick, um den Film in sich nachwirken zu lassen. Dass Sugimoto sie ausgewählt hat, ist triftig: Oft hat sie die Leere als eine entscheidende Kategorie ihrer Arbeit als Schauspielerin bezeichnet. Sie ist eine Voraussetzung, gewiss eine Befreiung, eventuell gar das Ziel. Versteht sie sich selbst als ein Gefäß, dass mit den Emotionen einer Figur aufgefüllt werden muss? Wer weiß, ob sie uns damit nicht auf ebenso redliche, noble Art täuschen will wie der Fotograf?
Vor einiger Zeit stieß ich auf die Arbeiten eines Fotografen, der sich einer ähnlichen Methode bedient, die aber zu ganz anderen Resultaten führt. Der Brite Jason Shulman hält ganze Filme ebenfalls mit langer Belichtungszeit fest. Er setzt sich dazu allerdings vor einen Bildschirm. Anfangs vermutete er, von den weit über 100000 Einzelbildern eines Films von durchschnittlicher Länge bliebe nur eine monochromes Zeugnis übrig. Dann entdeckte er verblüfft, welch unterschiedliche Gestalt sie annehmen können. Seine Aufnahmen sind in der Tat ein Kondensat der Filme. Während sie bei Sugimoto reglos sind und Variation nur aus dem Ambiente entstehen kann, aus Architektur und Atmosphäre der Lichtspielhäuser, werden bei ihm Strukturen und Formen sichtbar. Dramaturgien und Bildkompositionen scheinen durch.
So erscheinen beispielsweise die Disney-Version von »Alice im Wunderland« als ein eminent mittig konzentrierter Film, übrigens ebenso wie der Hard-Core-Klassiker »Deep Throat«. Die Filme besitzen eine je eigene Individualität, sind unterscheidbar, lassen sich aber in der Regel nicht identifizieren. Eine augenfällige Ausnahme stellt Georges Méliès' »Reise zum Mond« dar, was sich schon daraus erklärt, dass es sich um einen Kurzfilm handelt. Sein Antlitz wird kenntlich. Wenn man es weiß, erkennt man auch Kubricks »Dr. Seltsam« wieder (bei Schwarzweiß sind die visuellen Informationen reduzierter); auch die urbane Landschaft aus »Taxi Driver« mag man mit reger Phantasie identifizieren. Bei der Belichtungszeit, die Shulman wählt, treten dominante Kompositionsprinzipien und Farbvaleurs hervor – wobei die vorherrschenden Farbtöne gar nicht unbedingt denen der Filme entsprechen müssen, sondern auch durch die Mischung und hunderttausendfache Doppelbelichtung entstanden sind.
Fotografie und Kino können die unterschiedlichsten Allianzen eingehen. Deren Spannungsfeld ist die Übersetzung. Was mir in der Zusammenschau der Arbeit der zwei Fotografen so bemerkenswert erscheint, ist die Erkenntnis der Gegensätzlichkeit der Bildmedien: Was bei ihnen als Moment festgehalten ist, entfaltet sich in Wahrheit in der Dauer. Beide Projekte lassen keine Entwicklung zu; sie ergeben nur einen Sinn, wenn die Aufnahmen unter den exakt gleichen Bedingungen entstehen. Shulmans Herangehensweise wirkt auf Anhieb impressionistischer und offener, Sugimotos theoretischer. Der japanisch-amerikanische Fotograf zeigt in seinen Bildern einen erloschenen Tumult, sein britischer Kollege ein geordnetes Wirrsal. Beiden ist es gleich, ob sie Meisterwerke oder Durchschnittsware als Objekte wählen. Ob die Filme nun Enttäuschung oder Glück für den Zuschauer bereithalten, ist ihnen unerheblich. Aber gleichermaßen zählt die Ausführung am Ende doch mehr als das Vorhaben.
Wenn ich ausreichend Wandfläche zur Verfügung hätte und genug Geld, um ihre Arbeiten zu erwerben, würde ich sie unterschiedlich hängen. Sugimoto verlangt ein strenges Nebeneinander. Dann würde sich meine Wohnung in eine Galerie verwanden. Sie sind, das vergaß ich zu erwähnen (weil es mir selbstverständlich erschien), schwarzweiß. Shulmans Bilder hingegen würde ich auf einer Wand versammeln, in einer Petersburger Hängung (sofern sie in unterschiedlichen Formaten existieren). Sie würden miteinander kommunizieren. Und kein Besucher käme erst mal auf die Idee, dass sie ganze Filmgeschichten erzählen.
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