Ist die Sonnenfinsternis vorüber?
Bisweilen gehen mir Wörter oder Wendungen durch den Kopf, die eigentlich gar nicht so sehr außerhalb des Tagesgebrauchs liegen, die man dafür aber doch eher selten hört oder liest. Dann denke ich, welche Freude es wäre, sie einmal wieder in einem Text unterzubringen. Das sind momentan beispielsweise »ungestüm« und »auf Krawall gebürstet«. Leider haben sie auch in diesem Text rein gar nichts verloren.
Das Adjektiv ungestüm wäre das letzte, das mir zu Pierre Gras einfiele. Da drängen sich andere Beiworte auf wie: besonnen, umsichtig, nüchtern, gewissenhaft oder trocken. Sie sind Gras schon einmal in meinen Blog vom 9. März (»Auf dem richtigen Fuß«) begegnet: Er ist der Autor des Buches »Good Bye, Fassbinder!«, das vom deutschen Kino seit 1990 handelt. Bei der damaligen Gelegenheit übernahm er bereitwillig die Rolle des Sekundanten für seinen Freund, den französischen Filmemacher Serge Bozon. Auch an dem Abend, um den es nun geht, hielt er sich zurück. Bei der Vorstellung seines Buches im Berliner Institut Francais teilte er sich das Podium mit seinem Übersetzer Marcus Seibert und den Regisseuren Christoph Hochhäusler und Romuald Kamarkar. Deren Anwesenheit entspreche, wie Gras sagte, der Programmatik seines Buches. Und er war klug und bescheiden genug, den Beiden das Feld zu überlassen; schließlich sind sie besonders geübt in einem Denken über das Kino, das sich querlegt. Doch davon später mehr.
Gras gab einen kurzen Überblick über Thematik und Struktur seines Buches; im selben wohlig buchhalterischen Ton, in dem er es auch verfasst hat. Ich will mich etwas länger fassen, denn ich habe es seither vollständig gelesen. Gegenüber der französischen Fassung von 2011 (die ich seinerzeit nur kursorisch las) hat er es ergänzt und aktualisiert. Obwohl bereits im letzten Jahr im Alexander Verlag erschienen, ist es auf dem neuesten Stand: Sogar Hochhäuslers gerade angelaufener »Die Lügen der Sieger« wird schon ausführlich gewürdigt.
Gras geht in seiner Studie wie ein Kartograph vor. Er schätzt die Übersichtlichkeit von Lagern, Einflussbereichen und Grenzlinien. Er ordnet Filmemacher bestimmten Gruppen, Genealogien und Kapellen zu, zeigt ästhetische Netzwerke und ökonomische Zusammenhänge auf. Was nicht in diese Raster passt, kommt nicht vor (Dominik Graf, Michael Klier) oder zu kurz (Hans-Christian Schmid). Einigen Einzelgängern wie Kamarkar, Fatih Akin oder Andreas Dresen (dessen Realismusbegriff er gescheit problematisiert) widmet Gras hingegen ausführliche Kapitel, was nicht zuletzt der Aufmerksamkeit geschuldet ist, die ihnen in Frankreich zuteil wird. Das kommerzielle Kino erhält angemessen Platz (auch die inexportablen Komödien, bei denen er sich anscheinend zuweilen durchaus amüsiert hat), ebenso wie der Dokumentarfilm. Seine Feindbilder sind scharf konturiert. Die Produktionsfirma X-Filme kommt allerdings nicht ganz so schlecht weg, wie es in einigen Rezensionen hieß. Dass Tom Tykwer das Erzählen als eine Extremsportart begreift, muss ja noch nicht gegen ihn sprechen. Köstlich und nachvollziehbar fand ich seine Empörung darüber, wie dreist sich X-Filme als Co-Produzenten den Erfolg von Hanekes »Das weisse Band« auf die Fahnen schreiben. Oskar Roehler wiederum kann bei ihm keinen Stich landen.
Es muss nicht überraschen, dass Gras die Berliner Schule für die essentielle Strömung im deutschen Kino der letzten anderthalb, zwei Jahrzehnte ist. Ihr schreibt er eine bedeutende »Erneuerung filmischer Formen« zu. Angesichts der unterschiedlichen Befunde, die er bei der sorgfältigen Stilanalyse des Werks von Thomas Arslan, Christian Petzold und Angela Schanelec und ihrem Umkreis macht, ist es erstaunlich, dass er dennoch so oft auf die Briefkastenadresse der Schule zurückgreift. Sein Enthusiasmus für diese Filme ist groß; unbändige Schaulust schürt er jedoch nicht. Vielmehr sortiert er akkurat, verwendet viel Mühe auf die Beschreibung dessen, was die Filme nicht tun. Dass einige von ihnen "eine sehr durchdachte Arbeit" darstellen und die Regisseure "ihr Thema ernst nehmen", sollte sich von selbst verstehen. Mitreißend ist Gras' Prosa nicht. Aber das wollen diese Filme ja auch nicht sein. In der Regel gilt: Je kürzer seine Anmerkungen zu ihnen, desto mehr Neugierde wecken sie.
Marcus Seiberts Übersetzung peppt das Original zuweilen mächtig auf. Statt von "Themen" ist bei ihm schon mal von "Reizthemen" die Rede. Ein Getüm wie "Die Filme von Petzold zeigen die Quadratur des Weltkreises durch die Architektur im Dienste der Automobilisierung." fällt eher in die Kategorie der Nachdichtung als der Übersetzung. Derlei Nachbesserungen haben ihr Verhältnis offenbar nicht getrübt. An diesem französisch-deutschen Abend jedenfalls erschienen Gras und Seibert wie vertraute Komplizen. Überhaupt befand man sich unter Gleichgesinnten und war kein Störenfried aufs Podium geladen. Auch im Publikum war niemand auf Krawall gebürstet. So, jetzt haben wir die Wendung auch noch untergebracht.
Allerdings verursachte Gras' Titel schon einen gewissen Unmut. Muss man sich von der Überfigur Fassbinder drei Jahrzehnte nach dessen Tod wirklich noch emanzipieren? Aus französischer Sicht jedenfalls markiert dieser einen Wendepunkt, denn danach schien sich eine Art Sonnenfinsternis über das deutsche Kino gelegt zu haben. Erst Anfang dieses Jahrhunderts regte sich in Frankreich ein neues Interesse, das sich parallel zu den kommerziellen Erfolgen »Goodbye Lenin«, »Der Untergang« und »Das Leben der anderen« vornehmlich auf die Berliner Schule konzentriert, die in Frankreich als »Nouvelle vague allemande« vermarktet wird. Alles in allem sieht man, dass auch die französische Kritik ist nicht gegen Klischees und Sichtverengungen gefeit ist.
Weit interessanter und temperamentvoller waren da die Innenansichten, die Hochhäusler und Kamarkar lieferten. Auch sie nahmen die 90er als eine düstere Epoche wahr. Als Hochhäusler Film studierte, "lautete die Erzählung, das Autorenkino habe sich durch Onanie abgeschafft." Die geistig-moralische Wende der Kohl-Ära schlug sich aus seiner Sicht in einem Kahlschlag nieder, wie er sich zur gleichen Zeit auch in Italien abzeichnete. Ohnehin betrachtet er die deutsche Filmgeschichte als eine Folge dramatischer Einbrüche und macht die Tendenz aus, immer wieder reinen Tisch zu machen, bei Null anzufangen und keinen Anschluss zu dem Vorangegangenen zu suchen. Das gelte nicht nur für das Jahr 1933 oder die Nachkriegszeit. Natürlich lässt sich das auch für Oberhausen sagen, aber durchweg schlüssig erscheint mir diese These nicht. Allerdings finde ich sie so faszinierend, dass ich sie gern einmal ausführlicher formuliert sehen würde, zumal Hochhäusler als Gegenbilder die Kinematografien Frankreichs, Japans und der USA aufrief, in denen vielmehr eine Tradition des Erfolgs herrsche.
Kamarkar wiederum, der ursprünglich aus der Punk- bzw. 8-mm-Szene kam und sich überhaupt nicht am deutschen Kino orientierte, konnte als aktiver Zeitzeuge aussagen. Seine Vorstellung und Praxis des Kinos lief den damaligen Strömungen souverän zuwider, bescherte dem deutschen Kino mit »Der Totmacher« aber zugleich einen der ganz wenigen internationalen Festivalerfolge. Seinerzeit gab es noch keine Anknüpfungspunkte oder Netzwerke wie einige Jahre später an der DFFB oder bei der Zeitschrift »Revolver«. Die Rückkoppelung der Wahrnehmung im Ausland auf das eigene Land fehlte. Die Komödienseligkeit der 90er suchte nicht den Anschluss zum Weltkino, sondern gab sich genügsam; ihr reichte, was zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz zirkulieren konnte. Allzu viel hat sich aus seiner Warte bis heute nicht geändert. Deutschland sei eine Fernsehnation geblieben, die sich stärker mit dem »Tatort« als mit ihren Kinogrößen identifiziere. Der Deutsche Filmpreis erscheint vor diesem Hintergrund als ein Paralleluniversum, in dem TV-Prominente wie Wladimir Klitschko oder Maybritt Illner den Preis für den Besten Dokumentarfilm vergeben dürfen. Da das Kino hier zu Lande so stark mit dem Fernsehen assoziiert und praktisch von ihm vereinnahmt wird, gerät es gleichsam in Sippenhaft und würde nie wirklich als eine Kunstform betrachtet. Pierre Gras' Verleger Alexander Wewerka musste da beipflichten: Theaterbücher verkaufen sich bei uns weit besser als Filmbücher.
Was dem deutschen Kino fehlt, meinte Hochhäusler, sei das Begehren. Hier verzehrt man sich nicht nach Filmen. Es blieb unklar, ob er damit Filmemacher oder Zuschauer meinte. Das Kino sei eine Zweckveranstaltung, es würden Themenfilme gefördert, die dem Publikum die noch trockenere Schullektüre ersparten. Er wünschte sich eine Wiederentdeckung des Kinos als unmoralischem, beunruhigendem Ort. Auch die scheinbare Vielfalt des deutschen Kinos versetzt ihn nicht in Begeisterung, er plädiert für eine Konzentration, die ihm mehr Kraft und Macht verleihen könnte. Wie das aussehen sollte, blieb im Vagen; was vielleicht auch besser ist. Er beklagte die Kleinteiligkeit der hiesigen Filmindustrie. Til Schweiger und Romuald Kamarkar würden ihre Filme, so unterschiedlich sie auch seien, in Autorenstrukturen machen. Er plädierte demgegenüber für eine "industrielle Intelligenz", die Regisseure mit gut entwickelten Stoffen versorgt. Ihm selbst seien leider noch keine angeboten worden.
Diesen Gedanken fand ich erfrischend und der Frage würdig - wie vieles, was an dem Abend zur Sprache kam. Überdies will ich nicht versäumen, Hochhäuslers Mangel an Eitelkeit hervorzuheben: Ich rechne es ihm hoch an, dass er jede Gelegenheit verstreichen ließ, seinen neuen Film zu erwähnen, der gerade erst in die Kinos gekommen war. Gesprächsstoff gab es ohnehin genug. Vielleicht stimmt ja mein Verdacht, dass deutsche Regisseure eines ebenso gern machen wie Kino: darüber reden.
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