Genie des Ortes

London mag zwar nicht mehr die Metropole der Maßschneider sein; diesen Titel macht ihm heute vermutlich Hongkong streitig. Gleichwohl wird an der Themse das handwerkliche Ethos des individuellen, persönlichen Zuschnitts nach wie vor hoch gehalten. Was bei den Herrenausstattern der Savile Row ehrwürdige Tradition hat, könnte auch ein Konzept für die Zukunft der Lichtspielhäuser sein: nicht Kino von der Stange, sondern custom-tailored.

Dieser Philosophie hat sich die britische Kinokette "Picture House" verschrieben. Es gibt sie bereits seit gut einem Vierteljahrhundert. Sie wurde 1989 gegründet, fünf Jahre nach Eröffnung des ersten Multiplexes, und verstand sich von Anfang an als die bessere Alternative. Phoenix, der Name des ersten picture house in Oxford setzte ein selbstbewusstes Zeichen: Mit ihm erhob sich eine neue Kinokultur aus der Asche. Keines der mittlerweile 21 Lichtspielhäuser gleicht einem anderen. Ihre Architektur und Programmgestaltung haben einen individuellen Charakter. Sie werden weitgehend eigenständig betrieben. Gleichwohl ist das Firmenlogo zu einem Markenzeichen geworden, das anspruchsvollen Kinogängern Arthouse von hoher Qualität verspricht.

Jon Barrenechea, der als Manager für die Projektentwicklung zuständig ist, stellte diese famose Kinokette, die keine sein will, in Berlin im Rahmen der Veranstaltungsreihe "In weiter Ferne – so nah" der Deutschen Filmakademie vor. Sie widmet sich der Zukunft des Kinos, und Barrenechea führte mit Charme, Ironie und Leidenschaft vor, wohin der Weg führen könnte. Allem Anschein nach ist die Firmenpolitik (www.picturehouses.co.uk) ein tragfähiges und nachahmenswertes Modell, um das Kino als Ort der Neugier und des Austauschs zu bewahren. Der Standort wird stets sorgfältig ausgewählt. Am besten eignen sich naturgemäß Universitätsstädte. Die Firma erforscht die Einkommens-, Alters- und Familienstruktur in der Nachbarschaft. Auch die Frage, ob hier Rad- oder Autofahrer überwiegen, ist ausschlaggebend. Während Multiplexe meist ein Fremdkörper, ein bequemes Oktroy im städtischen Ambiente sind, werden Picture Houses genau auf die soziale Atmosphäre ihrer Umgebung abgestimmt. Im Gegenzug tragen sie nicht selten zur Neubelebung eines Viertels bei. Sie werden zu einem Angelpunkt der Nachbarschaft. Es sind mehr als nur Säle, in denen Filme vorgeführt werden. Die Kinos bieten Verweilqualität. Dabei spielt selbstredend auch das gastronomische Angebot eine verlockende Rolle. Auch die zugehörigen Cafés, Bars oder Restaurants werden eigenständig betrieben. Sie sollen eigene Anziehungskraft ausüben. Oft übernehmen sie eine ähnliche Scharnierfunktion, wie es traditionell die Pubs zwischen Arbeit und heimischen Feierabend tun.

Für das Filmangebot ist zwar maßgeblich ein zehnköpfiges Gremium in der Londoner Zentrale zuständig. Es besteht aus Spezialisten für Arthouse, Dokumentarfilm, Klassiker und andere Sparten. Die Kinobesitzer legen die Schwerpunkte jedoch in eigener Verantwortung und zeigen, wovon sie annehmen, dass es ihrem örtlichen Publikum zusagt. Damit ist des Entgegenkommens aber noch nicht genug, wie Barrenechea lebhaft darstellte. Der Einfallsreichtum, mit dem neue Publikumssegmente erfunden und herangezogen werden, ist staunenswert. Jeder kann hier seine Nische finden. Es gibt Programmschienen, die "Silver Screen" (für das reifere Publikum), "After Dark" (für Freunde des Horrorfilms) oder "Toddler time" (für Kleinkinder) heißen; bei "The Big Scream" sind selbst Zuschauer willkommen, die sonst in Kinos nur ungern gesehen werden: Mütter mit Neugeborenen. Es gibt Programme, die für Autisten geeignet sind: das Kino als geschützter Raum. Am "Discovery Tuesday" sind Filme zu entdecken, die sonst keinen Verleih finden. Mit alternative programming – also Live-Übertragungen von Ballett-Opern- und Theateraufführungen sowie TV-Ereignissen wie einer neuen Dr. Who-Folge - , das ganz allgemein in britischen Kinos enormen Zuspruch findet, erwirtschaftet die Kinokette rund ein Achtel ihres Umsatzes. All dies hat einen festen Programmplatz, wird zum Treffpunkt, an dem man sich verabredet, obwohl einem der aktuell laufende Film erst mal gar nichts sagt. Die Zuschauerbindung erheben die Picture Houses zu einer eigenen Kunstform. In Zeiten, in denen den Filmtheatern durch Streaming etc. ständig neue Konkurrenz zuwächst, ist das eine Botschaft von erfreulicher Strahlkraft: Stell' dir vor, es gibt ein Kino – und alle gehen hin.

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