Spätes Glück
An London, das erzählt er oft, faszinierte ihn, dass ganze Straßen einem einzigen Gewerbe gewidmet sind. In der Tat, wo sonst in Europa findet sich diese Konzentration an Herrenausstattern wie in der Savile Row oder Hemdenschneidern wie in der Jermyn Street? Den jungen Fotografen Wolfgang Suschitzky interessierte in den 1930er Jahren jedoch besonders die Charing Cross Road, die Magistrale der Buchhandlungen und Antiquariate.
Diese Anziehungskraft hat einerseits ihre biographische Bewandtnis: Er wurde vor 102 Jahren als Sohn eines Buchhändlers im Roten Wien geboren (und lebt noch immer, weshalb das "erzählt" im ersten Satz erfreulicherweise im Präsenz stehen darf), das Stöbern, Durchblättern und Lesen waren ihm also von Kindheit an als bewunderungswürdige Tätigkeiten vertraut. Aber es waren zugleich auch die Menschen seiner neuen Heimat, die sich da für Bücher interessierten. Er betrachtete sie mit den Augen des Exilanten, für die nichts selbstverständlich ist. Der Zyklus seiner Charing-Cross-Fotos schillert zwischen Feldforschung und Heimatsuche. Einige dieser Fotos wurden zu Ikonen der Straßenfotografie, die weit berühmter sind als der Mann, der sie machte.
Bis vor einigen Jahren war Wolf Suschitzky in Fachkreisen hauptsächlich als Kameramann bekannt, dessen Karriere in der ruhmreichen britischen Dokumentarfilmbewegung der 30er begann und der nach dem Krieg auch zahlreiche Spielfilme fotografierte, darunter Joseph Stricks Verfilmung von Ulyssses und den epochalen Gangsterfilm Get Carter mit Michael Caine. Geflissentlich wird er zuweilen mit seinem Sohn Peter verwechselt, der die gleiche Laufbahn einschlug, Filme von John Boorman fotografierte sowie Das Imperium schlägt zurück und seit Jahrzehnten hauptsächlich mit David Cronenberg arbeitet. Michael Omasta, Redakteur bei der Wiener Wochenzeitung "Falter", bemüht sich seit geraumer Zeit um die Rehabilitation von Suschitzkys fotografischem und filmischem Werk: mit einer Hingabe, die zu mehreren Ausstellungen geführt und bislang drei Buchbände hervorgebracht hat (www.synema.at), von denen der erste vergriffen ist. Vielleicht findet sich in der Charing Cross Road ja noch ein Exemplar.
In der Berliner Galerie Hilaneh von Kories sind noch bis zum 12. Dezember einige der Fotos zu sehen, die Wolf ab 1934 in London und anderswo machte. (Falls Sie Sammler sein sollten: Es sind gutteils vintage prints zu vernünftigen Preisen.) Schon vor fünf Jahren fand am Hamburger Standort der Galerie eine Suschitzky-Ausstellung statt (die Inhaberin hat anscheinend ein gutes Händchen für Wiederentdeckungen, zeigte früh Vivian Maier oder auch den Istanbul-Chronisten Ara Güler). Der rüstige Fotograf kam selbst zur Eröffnung. Leider habe ich viel zu spät davon erfahren und konnte die schöne, kleine Werkschau erst in diesen Tagen in der Belziger Straße sehen. Sie trägt den Titel "I am a lucky man", das Lebensmotto des Fotografen: das Bekenntnis eines Überlebenden, der dies nur sein konnte, weil er stets am richtigen Ort war. Seine Familie floh rechtzeitig vor dem Austrofaschismus nach London; zwischenzeitlich lebte Wolfgang in Holland mit seiner ersten Frau, die ihn jedoch verließ und er deshalb früh genug zurück nach England kam, bevor die Nazis das Land besetzen. Ein neugieriges Schicksal führte ihn später als Kameramann um die Welt.
Zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, ist eine Gabe, die ein guter Fotograf besitzen muss. Diese Geistesgegenwart schlägt sich in seinen Fotos auf unaufdringliche Weise nieder. Suschitzky war nicht auf scoops oder Anekdotisches aus; seine Bilder entstanden aus geduldiger, wacher Betrachtung. Sie erzählen selten Geschichten, überliefern aber viel Geschichte. Sie sind empfänglich für die Atmosphäre von Situationen und Milieus. Als Kind aufrechter Sozialisten hat er einen Blick für das Aufeinandertreffen unterschiedlicher gesellschaftlicher Sphären. Die Begegnung der flanierenden idle class mit Straßenarbeitern mutet nie konstruiert, sondern stets vorgefunden an. Er zeigt ungeschliffene Lebensrealität. (Wer weiß, ob Peter nicht Impressionen seines Vaters aus dem proletarischen East End, etwa die vor einem Gasometer spielenden Kinder, im Hinterkopf hatte, als er mit Cronenberg »Spider« drehte?) Ich mag sehr, wie Wolf Suschitzky die Witterung einfängt (weshalb mir die Nachtaufnahme von Foyle' s Bookshop mit dem regennassen Bürgersteig letztlich besser gefällt als die berühmtere Frontalansicht mit dem stattlichen Leser im Bowler), mag die Bilder, in denen die Tiefe des urbanen Raums noch im Dunst kenntlich bleibt, etwa seine Aufnahme vom Trafalgar Square, in deren Hintergrund das Regierungsviertel sichtbar wird. Seine Porträts wiederum von Berühmtheiten wie Sean O' Casey oder Aldous Huxley verraten nicht den indiskreten Wunsch, in ihre Seele zuschauen, sondern zollen ihrer Lebensleistung Respekt.
Die Fotos, in denen er an seine erste Liebe, die Zoologie, anknüpft, sind erstaunlich. Suschitzky ist vielleicht der erste Fotograf, der veritable Porträtstudien von Tieren machte. Die des Gorillas im Londoner Zoo, die als stolzer Solitär in der Ausstellung hängt, entstand während der Dreharbeiten zu einem Film und ist auch im zweiten Bildband von Synema zu sehen, der Suschitzkys Fotos zu Filmen versammelt, an denen er mitwirkte. Das Buch ist ein schönes Dokument seiner Doppelbegabung, voller Zeugnisse von Regisseuren und Darstellern und hübscher Bildlegenden aus der Feder des Fotografen. Seine Anfänge sind mehr als nur ein Trainingsfeld für die spätere Kameraarbeit, sondern der Auftakt einer Kontinuität. In beiden Metiers stellt Suschitzky gern Arbeitsabläufe dar, was auch für seine Dreharbeitenfotos gilt. Erstaunlich, dass seine tollen Porträts von Michael Caine oder Vincent Price nicht bekannter sind. Bedauerlich ist nur, dass zu einem Film keine Abbildungen enthalten sind: Nach den Ausschnitten zu urteilen, die ich aus "The Small World of Sammy Lee" von 1963 kenne, muss es einer der besten London-Filme aller Zeiten sein. Das vibrierende Bild, das bereits der Vorspann vom Vergnügungsviertel Soho zeichnet, ist atemraubend: eine großartige Studie erwachenden urbanen Lebens, die unmittelbar anknüpft an die Schaulust, die den jungen Exilanten drei Jahrzehnte vorher umtrieb.
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