Buch-Tipp: Joseph Garncarz – Begeisterte Zuschauer

Harlan vs. Zirkus Renz

Bei den Nazis war im Kino alles ganz normal. Menschen gingen in Filme, die sie sehen wollten, und das waren wie auch sonst in Europa meistens die heimischen Erzeugnisse. So kann man etwas überspitzt die durchaus angenehm unaufgeregte Studie von Joseph Garncarz zusammenfassen.

Um Erkenntnisse darüber zu gewinnen, welche Produktionen die Deutschen im »Dritten Reich« gesehen haben, wertet der Autor mit statistischer Nüchternheit eine Auswahl von Berliner Kinospielplänen – im Wesentlichen Zeitungsanzeigen – und die Laufzeiten der gezeigten Filme aus. Angaben wie die Platzzahl der Häuser, intensivere Besuchsmonate und ob der Film allein spielte, verfeinern die Berechnung. Aber schon, ob ein Kinosaal ausgebucht war oder nur zu einem Drittel besetzt bei einem Film, der in einer schwachen Zeit lief, kann das System nicht mehr erfassen. Und wenn das auch verdienstvoll und interessant ist – die Ergebnisse können so nicht stimmen. Das scheint der Autor nicht gern zu diskutieren, obwohl einmal erwähnt wird, dass die Resultate für einzelne Filme unzuverlässig sein mögen.

Wer sich mit dem Film dieser Zeit beschäftigt und die Aktenbestände der Ufa, des Propaganda- oder Finanzministeriums im Bundesarchiv durchblättert, wird enttäuscht feststellen, dass fast alle Unterlagen zum kreativen Prozess fehlen. Was dafür im Übermaß erhalten ist, sind finanzielle Informationen – darunter natürlich auch Einspielergebnisse und -schätzungen. Diese Aufstellungen beziehen sich fast ausschließlich auf die später verstaatlichten Firmen, sie schließen sich zu keinem harmonischen oder gar vollständigen Bild zusammen – aber sie existieren. Wie Garncarz zu behaupten, dass es bei den Machthabern kein Interesse gab, solche Zahlen zu erheben, ist nachweislich falsch; Goebbels nimmt in seinem Tagebuch regelmäßig finanzielle Erfolge zur Kenntnis. Dass bei Garncarz entsprechend das Bundesarchiv nach einem persönlich gehaltenen Vorwort nie wieder erwähnt wird, irritiert. Einige identische Listen aus dem DFF werden immerhin erwähnt, aber der Autor vermeidet es weitgehend, seine statistischen Hochrechnungen am offiziellen Zahlenmaterial zu verifizieren.

So erwähnt er eine Aufstellung vom November 1944, die uns immerhin die erfolgreichsten 23 Filme des Dritten Reichs überliefert, wertet sie aber nicht vergleichend aus. Der Rekordhalter ist dort Veit Harlans »Die goldene Stadt« mit 31 Millionen Besuchern. Auch sonst findet man auf dieser Liste Filme, die man teils heute noch kennt und vorn erwarten würde, also alle Agfacolor-Produktionen sowie große Ausstattungs- oder Starfilme. Bei Garncarz nimmt hingegen Zirkus Renz Platz 1 ein – mit über 36 Millionen Zuschauern, obwohl die offiziellen Zahlen ihn bei 21 Millionen verorten. Bizarr wird es schon ab Platz 2, wenn 35 Millionen »Ein glücklicher Mensch« gesehen haben sollen, während die offiziellen Schätzungen auf 11 bis 12 hindeuten. Der mit 31 Millionen angeblich viertplatzierte Film, »Glück bei Frauen«, wurde in Wirklichkeit nur mit halb so vielen Kopien gestartet wie die großen Erfolgsfilme, lag entsprechend im unteren Drittel der Einspielergebnisse von1944 und dürfte etwa 8 Millionen Zuschauer gehabt haben. Dass im Gegenzug der dritterfolgreichste Film, »Immensee«, bei Garncarz nicht einmal in den TOP 100 auftaucht, ist ganz unerklärlich. Einmal gibt es einen Abgleich mit einer anderen Liste im Buch und der Autor weist da selbst auf einige extreme Abweichungen hin. Es macht freilich einen Unterschied, ob Riefenstahls »Olympia 9« oder 3,5 Millionen Zuschauer hatte. Angesichts solcher Ausschläge kann man eigentlich gleich einen Zufallsgenerator anwerfen.

Für eine Beschreibung größerer Trends mag das nicht entscheidend sein, für eine kleinere Gruppe von Filmen wie die laut Autor 37 genuin dem Nationalsozialismus nahestehenden und entsprechend untersuchten Machwerke sind solche Ausschläge schon relevanter. Vielleicht ist Berlin eben doch keine repräsentative Stadt für eine solche Stichprobe, auch wenn man wie Garncarz die repräsentativen Uraufführungstheater außen vor lässt.

Es gibt andere filmhistorische Ungenauigkeiten, wie eine irreführende Darstellung zur Aufhebung der Filmzensur 1934, aber auf ein zentrales Problem sei noch hingewiesen. Ganz zu Recht wird zwar einerseits betont, dass Zuschauer buchstäblich ihr Filmangebot mit dem Kauf der Kinokarten erzwingen und deshalb so viel harmlose Unterhaltung produziert wurde – aber warum dann NS-nahe Filme, obwohl sie so viel Zustimmung fanden, doch nur relativ selten mit Ausnahme einer Spitze 1940/41 produziert wurden, kann Garncarz aus seiner Vogelperspektive nicht so recht erklären. So ganz darf man historische Elemente, wie Hitlers Wutausbruch Ende 1939 angesichts des Mangels an nationalsozialistischen Filmen und Goebbels panische Reaktion darauf, eben nicht außer Acht lassen.

Ungeachtet aller Defizite finden sich einige grundsätzlich richtige und wichtige Erkenntnisse im Buch, vor allem die starke kulturelle Bindung der europäischen Länder an ihre nationalen Produkte. Garncarz korrigiert etwa Markus Spiekers äußerst verdienstvolle Studie über die Rolle des Hollywoodfilms, indem er dessen angebliche Erfolge damals als ein Phänomen einiger Uraufführungstheater in der Metropole Berlin relativiert. Generell wird das NS-Kino hier als eine relativ normale nationale Kinematografie erkennbar – und nicht als ein fremdes Phänomen aus einer parallelen Dimension. Und letzten Endes: für all die Filme, für die es so gar keine wirtschaftlichen Daten gibt, ist eine auf Fakten basierende Schätzung immer noch besser als gar nichts.

 


Joseph Garncarz: Begeisterte Zuschauer. Die Macht des Kinopublikums in der NS-Diktatur. Herbert von Halem, Köln 2021. 356 S., 38 €.

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