Die 14. documenta: Alles, was läuft
Andreas Angelidakis: »Polemos«
Am bewegten Bild kommt die Kunst nicht mehr vorbei. Auch auf der 14. documenta nicht, die in Kassel im Juni eröffnet wurde. Thomas Meder hat sich im Zwischenreich der Videoinstallationen und Experimentalfilme umgeschaut
Ein einsamer Reiter an einem Bergbach, von oben gesehen. Lichtdurchfluteter Wald, vom Wasser geschliffene Kieselsteine, beruhigtes Grundrauschen: ein aus dem Abenteuer- und Westerngenre vertrautes Bild. Das Eingeständnis fällt schwer, dass hier etwas grundsätzlich nicht stimmt. Das Reittier ist kein Pferd, sondern ein zweiter Mann, der unter seiner Last mühevoll kriecht. Der Reiter dagegen schaukelt ohne erkennbare Regung hin und her.
Was dem dreiminütigen Video des Griechen Thanassis Totsikas in aller Lakonie gelingt, scheint die Wahl der meisten Kunstwerke der documenta 14 zu inspirieren: Von den Rändern her soll die Kunst nochmals neu erschlossen werden. Keine Meistererzählung, wenig große Namen. Sollte ein Ziel der Ausstellungsmacher die Veranschaulichung des Satzes von Marshall McLuhan gewesen sein, Medien stünden immer auf den Schultern von Medien, dann wurde dieses Ziel erreicht. Das Wechselspiel der Formate zeichnet diese documenta in besonderer Weise aus. Hier noch einmal das klassische Museumsexponat, statisch und eine gewisse Distanz einfordernd, dort die große Palette sich öffnender Formen, die performativ auftreten und auf die spontane Reaktion der Betrachter oder eben Mitspieler aus sind.
Doch der Reihe nach. In Kassel ist nach fünf Jahren wieder einmal die Weltkunst eingefallen, für die üblichen 100 Tage und in einer Massierung, für die man mindestens zwei, besser drei Tage einplanen sollte. Eine documenta gleichen Umfangs gibt es aber auch schon in Athen, wo seit April fast dieselben Künstler ausgestellt sind. Die griechischen Pforten schließen bereits im Juli, in Kassel läuft die Schau bis September. Die Direktorin der Kulturstiftung des Bundes sprach in ihrer Eröffnungsrede von einem Stück in zwei Akten, mit lediglich wechselnden Kulissen. Wenn es denn so einfach wäre.
Das kirchenmausarme Griechenland vor dem ökonomischen Koloss in der Mitte Europas? »Von Athen lernen« ist als Statement ebenso politisch zu verstehen wie als Schrei nach medialer Aufmerksamkeit. Betritt man in Kassel das zentrale Fridericianum, begrüßt einen der riesige Panzer von Andreas Angelidakis, gebaut aus Sitzkissenmodulen – die Freundlichkeit der Waffe, sozusagen. Ungleich ungemütlicher erscheint die Situation für eine Frau hispanischen Typs, die vor einem deutschen »Leopard«-Panzer davonläuft, im Video von Regina José Galindo aus Guatemala (Palais Bellevue): Der Abstand bleibt 18 Minuten lang derselbe; weder schlägt sich die Frau in die Büsche noch fährt der Panzer über sie hinweg oder schießt auf sie. Er ist nur immer knapp hinter ihr. So bleibt die Bedrohung konstant. Dass die Perspektive von Täter und Opfer ständig wechselt, wirkt ob der konkreten ikonographischen Benennung nachrangig. Im Hintergrund kreisen deutsche Windkraftrotoren.
Man könnte es das »Griechische Syndrom« nennen. Seine historische Herleitung und damit die Begründung einer Art kuratorischen Konzepts findet sich bei den Alten Meistern, die in der Neuen Galerie ausgestellt sind. Die Folge von Exponaten zeigt gräzisierende Pläne des Architekten Leo von Klenze; der Bayer Otto I. von Griechenland und die Ahnen des Kunsthändlers Gurlitt treten hinzu; schließlich wird Theodor Heuss, der erste Bundespräsident, als Künstler präsentiert – seine Zeichnung demonstriert die anhaltende deutsche Begeisterung für das antike Griechenland, die im Bau der Walhalla gipfelte. Das einstige Pathos wird aufgegriffen, nun aber in eine Verschwörungstheorie gegen Griechenland verkehrt. Das neue Griechische Syndrom findet sich vielerorts in der Schau, weltweit sozusagen, auch im Erläuterungstext zu einer Zeichnung des französischen Realisten Gustave Courbet, die einen zerlumpten Mann zeigt, wie er einem bettelnden Kind eine Münze gibt. Hier, heißt es, sei die »Dringlichkeit prophezeit, alternative Ökonomien zu erfinden und dem neoliberalen Würgegriff auf unsere menschliche Existenz zu entkommen.«
Da bleibt der Kunst gar nichts anderes übrig, als sich selbst zu retten. Und die Rettung folgt sogleich, im nächsten Raum, verhalten zunächst in Gestalt einiger Voodoo-Bilder von der Insel Haiti, aus dem Werk der Avantgarderegisseurin und Filmtheoretikerin Maya Deren, mitsamt ihrer Bolex und einem vorsintflutlichen Tonbandgerät in der Vitrine. Von Derens ekstatischen Körpern lässt sich problemlos auf ein riesiges Video-Diptychon überblenden, zu sehen im Ottoneum: »Preah Kunlong«, von der Hand des kambodschanischen Künstlers Khvay Samnang. Es zeigt einen Tänzer, angetan mit einer Canidenmaske, im schamanistischen Ritual im Urwald. Indem der Mann seinen Körper zwingt, zwingt er die Natur und gibt, laut Beischrift, auch Hoffnung für das Areng-Tal, das selbstredend geopolitisch bedroht ist. So lässt sich ästhetische Überwältigung, die gleichwohl für Schlussfolgerungen offen bleibt, wieder schmälern.
Die Kunst hilft sich am besten selbst. Das war schon immer so. Dabei kommt ihr seit langem das zeitbasierte Bildmedium zu Hilfe, und zwar viel intensiver, als es diese documenta einräumen mag. Der sinnliche Überschuss – die momentane Erfahrung – und die aus dem ästhetischen Erleben unmittelbar folgende, freilich immer erst einmal versuchsweise Informationsverarbeitung: Das sind nur zwei der Elemente, die klassische Bildkunst und Film eint. Der Philosoph Markus Gabriel hat zuletzt die einheitliche Sicht auf diese Welt durch die vielen verschiedenen Subjekte für beendet erklärt. Stattdessen spricht er von einem »Sinnfeld« beim Wahrnehmen, das sich ein jeder, eine jede selbst bereite. Das konzentrierteste »Sinnfeld« bleibt ein künstlich geschaffenes: das Bild, sei es nun statisch oder bewegt.
Einige Altmeister der Videokunst erledigen das Notwendige. Hier ist zuerst Bill Violas Video »Raft« (2004) im Fridericianum zu nennen, bekannt, doch unabweisbar aktuell. An einer Art U-Bahn-Haltestelle kommen etwa 20 Menschen zusammen, Schwarze, Weiße, Asiaten, ein New York-typisches crowding vielleicht. Alle bewegen sich in extremer Zeitlupe und lassen so das sinnliche Erleben von Skulptur anklingen; dann, plötzlich, der Einbruch der Katastrophe. Wie leiden zufällig zusammengewürfelte Menschen »gemeinsam«? Die Verweise auf 9/11 sind so evident wie das Zitieren von Géricaults »Floß der Medusa« – raft, englisch: das Floß. Die mediale Präsentation der »Boat People« hat das Motiv dann zum dauerhaften Fanal für das Ungleichgewicht dieser Welt werden lassen.
Oder der einstige Warhol-Gefährte Michel Auder, dem einer der spektakulärsten Orte der documenta zugewiesen wurde. Vor dem vermauerten Ende eines Gleisschachtes im Kulturbahnhof hat der Künstler 14 Monitore angeordnet. Sie zeigen Gewalthaltiges aus verschiedenen Zeiten. Der Irakkrieg spielt mit und eine mittelalterliche Bartholomäusfolter, das Pop-Kunst-Duo Cicciolina & Koons tummelt sich neben Figuren Caravaggios. Ein Trump-Tweet wirkt von dieser Umgebung wie angesteckt. Selbst Tauben über Manhattan erscheinen nicht mehr nur friedlich. Die eigentliche Sensation ist der kinoähnliche Ritus der Erfahrung. Man könnte in diesem Zusammenhang an Martin Scorseses Episode der »New York Stories« (1989) denken, in der es auch eine Performance in einem U-Bahn-Schacht gibt und Nick Nolte über die Niveauunterschiede in der Kunst aufklärt – für ihn ist hohe Kunst noch ausschließlich Malerei und Plastik.
Was dagegen der Schotte Douglas Gordon, der in seinen Filmen und Installationen gern mit Kinoklassikern arbeitet, in einem Saal des örtlichen Multiplex mit Jonas Mekas macht, ist enttäuschend schlicht – auch wenn es Spaß macht, der vitalen Stimme des 95-jährigen Mekas über neunzig Minuten in einem fast komplett dunkel bleibenden Kinosaal zuzuhören. »Live« war der Altmeister der amerikanischen Avantgarde in Kassel ungleich eindrucksvoller – und kehrte so unfreiwillig die beste Wirkung von Kunst um. Mekas präsentierte, neben anderem, auch ein Video zu seiner Vergangenheit als Displaced Person in Kassel.
Auf den ersten Blick mindestens so attraktiv wie die Werkschau des chinesischen Dokumentarregisseurs Wang Bing wirkt das prächtige »Gloria«-Kino, wo seine Arbeiten gezeigt werden: Welche Filme mögen hier die Welt sichtbar gemacht haben? Welche Erfahrungen haben diese lindgrünen Fältelungen der Wandbespannung und die Originallampen aus den Fünfzigern begleitet? Adam Szymczyk, der künstlerische Leiter der documenta, hat angekündigt, zum Ende im September eine Reihe »zu selten gespielter Filme« zu präsentieren. Man wird sehen.
Und so kehrt man zur Kunst zurück und erlebt in den Fuldaauen, im Westflügel der Orangerie, einen der reflektiertesten Auftritte der Schau. Außen an der barocken Fassade, oben am seitlichen Fries, projiziert Romuald Karmakar, als Regisseur ein Grenzgänger zwischem dem Fiktionalen und Dokumentarischen, in Stichworten eine »Entstehung des Westens« aus der Geschichte des Oströmischen Reiches heraus. Wie der Macher im Gespräch erläutert, bezieht er sich auf die Forschungen des Historikers Heinrich August Winkler, Autor der »Geschichte des Westens«. Innen dann, in einer zweiten Arbeit, »Byzantion«, ein sinnliches Relikt der oströmischen Kirche, ein abgefilmter Hymnus, aus dem Gesangskunst, religiöse Inbrunst und Fremdheit in einem hervorstechen. So mag Kunst tatsächlich zu Wirkung kommen: Ohne etwas zu behaupten, macht sie ungekannte Zusammenhänge in einem eigenen »Autorenlicht« erlebbar. Karmakar misst nicht zuletzt die Grenzen des technischen State of the Art neu aus, wenn er die Projektion in die übliche Black Box vermeidet. Lichtstarke LED-Panels ermöglichen das Öffnen der Fenster. Die Sonne strahlt herein. Die kleine, feudale Idylle des Parks kommt zu der Bühne hinzu, auf der Fremdes für eine Weile zu Besuch ist.
White Cubes, Black Boxes. Diese musealen Strategien ergänzt die Inszenierung neuer Ausstellungsräume in der Stadt. In der Neuen Galerie, einem ehemaligen Postgebäude, gibt es einiges im Cinemascope-Format; die Attitüde des size matters hat man freilich rasch über. Nachdenklich macht »Realism«, ein Werk des Polen Artur Żmijewksi, der auf sieben Screens die Alltagsbewältigungsstrategien beinamputierter Männer sortiert.
Und dann wird es doch noch grundlegend theoretisch, mit dem ersten Teil der Arbeit »Staging« von der zypriotischen Choreografin Maria Hassabi. 54 bemalte Bühnenscheinwerfer lassen den Besucher fast erblinden, ehe er sich als Bestandteil einer spektakulären Performance begreift: Hassabi selbst und sieben Mitstreiterinnen liegen oder sitzen, zweiter Teil, regungslos im Gebäude verstreut. In reptilienartiger Manier bewegen sie stets nur eine Extremität, verschieben sich mit größter Anstrengung und Akribie. Von den Blicken, die über ihre Körper streifen, nehmen sie keine Notiz. So kommt zur Erfahrung einer totalen Hingabe an die Kunst – das Werk dauert Stunden, Tage, Wochen – Distanz hinzu: Auch diese Körper werden zu Medien.
Wenn das klassische Museumsobjekt eine Aura produziert, deren Geheimnis nur Expertenwissen lüften kann, meiden Filme eine solche Barriere von sich aus. Sie teilen in der Regel mit, was sie wissen. Über sie lässt sich diskutieren. Aus dem Besuch der documenta 14 könnte man das Fazit ziehen, dass es oft der Punkt des Übergangs vom Stillstand, von »Gefrorenheit« des Motivs zur Bewegung ist, an dem sich Reflexion entzündet. Hassabis »Staging« legt diesen Gedanken nahe, ähnlich Arbeiten des Künstlerduos Prinz Gholam (documenta Halle) oder das Video »The Secret School« der Griechin Maria Gioti (Neue Galerie). Bei Letzterem geht es um den nationalen Mythos, dass es »geheime Schulen« unter der osmanischen Besatzung des Landes gegeben habe. Illustriert wird dies mit einem Fernsehfilm, produziert unter der Militärdiktatur, der wiederum das einzige »Zeugnis« jener Schulen zeigt, ein Ölbild von 1886. Die mehrfache mediale Brechung gebiert eine Geschichtsinterpretation, die ohne Ironie nicht mehr auskommt.
Harald Szeemanns documenta 5 war 1972 die letzte Schau, die durch ihr Ernstnehmen neuer Formen wie Fluxus, Happening, Performance überall Beifall fand. Auf die documenta, die das Kino und die zeitbasierten Medien nicht mehr von der Kunst ableitet, sondern, umgekehrt, den Film einmal zuerst denkt und von hier aus die Entwicklung der Kunst betrachtet, haben wir nun wieder fünf Jahre zu warten.
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