ARD-Mediathek: »20 Tage in Mariupol«

»20 Tage in Mariupol« (2023). © SWR/AP Photo/Mstyslav Chernov

© SWR/AP Photo/Mstyslav Chernov

Augenzeugen werden

Nicht erst seit dem Oscar-Gewinn in der Kategorie Bester Dokumentarfilm wissen selbst Menschen, die das nie hatten wissen wollen, wo Mariupol liegt. Die Belagerung der ukrainischen Stadt am Asowschen Meer, der Kampf um die Asow-Stahlwerke und schließlich die Einnahme durch russische Truppen am 20. Mai 2022 waren dramatische Schlagzeilen aus den ersten Monaten dieses unseligen Kriegs.

Der ukrainische Journalist Mstyslav Chernov hat in jenen ersten Tagen nach dem Beginn der von Putin sogenannten »russischen Spezialoperation« in der Stadt gedreht. Bei seiner Dankesrede am Oscar-Abend sprach er ergreifend davon, dass er seinen Oscar gern eintauschen würde, dafür, diesen Film nicht hätte machen zu müssen. Man versteht sofort, warum. Aber trotzdem gelingt ihm hier Erstaunliches: nämlich die reflexhafte Abwehr der Zuschauer auszutricksen, die einen Film über den aktuellen Kriegshorror eigentlich nicht sehen wollen.

Gleich die erste Szene folgt noch einem vergleichsweise »billigen« Thriller-Kalkül: Mit der Kamera beobachten wir einen mit »Z« gekennzeichneten Panzer auf der Straße. Aus den aufgeregten Rufen und dem Kommentar des Erzählers dazu begreift man die Situation: Chernov und sein Team filmen in einem Krankenhaus, das nun von russischen Truppen umlagert ist. Und dann geht der Film chronologisch zurück zu Tag 1, dem ersten Kriegstag.

Fortan hat der Film keinen Kniff mehr nötig, um spannend zu sein. Chernovs Kamera fängt die Konfusion der Menschen ein. Geschockte Frauen, die nicht wissen, wo sie sich in Sicherheit begeben können. Weinende Kinder, die die Panik ihrer Eltern spüren. Es geht alles ziemlich an die Nieren. Chernov und seine Leute wechseln häufig ihren Ort, filmen die Unsicherheit in den Schutzkellern und immer wieder die Krankenhäuser, wo taffe Ärzte versuchen, Kinder zu retten.

Das Leid ist unmittelbar und sehr individuell. Eine ältere Frau versucht vergeblich, die Plünderung ihres kleinen Supermarkts zu verhindern. Ein Mann zieht mit Leiterwagen und seinen letzten Habseligkeiten durch die Stadt, seine Wohnung sei weg, es gebe sie nicht mehr. Immer wieder beschwören Menschen, »dass das einfach alles aufhört«. Sie wollten doch nur in ihrem Land, der Ukraine, leben. Andere packt eine Art stoischer Abgebrühtheit: »So ist es nun.« Und wieder andere fordern Chernov auf zu filmen, festzuhalten, was die Russen hier tun, während Putin behauptet, der Zivilbevölkerung keinen Schaden zufügen zu wollen.

»20 Tage in Mariupol« ist kein Horrorfilm, der erschrecken will. Im Gegenteil, Chernov will sachlich bleiben. Das Ziel seines Films nämlich ist, uns zu Zeugen zu machen. Als eine Lektion dieses Kriegs erweist sich, dass in Zeiten von Fake News weniger die Fälschungen zum Problem werden, sondern die Tatsache, dass keiner den authentischen Bildern mehr glaubt. Schon allein in diesem Sinn ist es wichtig, sich diesen Film anzuschauen.

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