Kinder im Film: Magic Kingdom
»The Florida Project« (2017). © Prokino
Filme mit Kindern sind nicht unbedingt Kinderfilme. Sondern Filme für alle, die nur eine besondere Art der Weltwahrnehmung beschreiben. Gerhard Midding über kleine Strolche, Abenteurer, Verlorene und Unverstandene
Bäume sind wichtig. Es geht fast nicht ohne sie. Es lässt sich aber auch so viel mit ihnen anstellen! Sie eignen sich wunderbar als Versteck, wenn der Stamm dick genug oder das Geäst dicht belaubt ist. Dort oben lassen sich Baumhäuser errichten. Ebenso gut kann man in einer Baumkrone aus Protest und Trotz ausharren, bis die Erwachsenen Vernunft angenommen haben. In den Stämmen entdeckt man Astlöcher, die sich wunderbar eignen, um Schätze oder Botschaften zu deponieren. Bäume können Geheimnisse bewahren, die nur Eingeweihte kennen. Sich in ihnen aufzuhalten, kann gefährlich sein. Man kann stürzen und sich verletzen. Wenn der Baum hoch genug ist, kann einem noch Schlimmeres passieren. Und wenn man besonders traurig ist, kommt einem das sogar sehr verlockend vor.
Bäume sind wie Häuser, haben diesen gegenüber aber den Vorteil, der Natur anzugehören. Keiner gleicht dem anderen. Sie sind keine Architektur, die Erwachsene geschaffen haben. Einige von ihnen sind so alt, dass sie eine Familie über Generationen begleiten können. Alte Bäume sind solide, geduldig und verlässlich. Junge sind nicht ganz so interessant, obwohl man sie als ein Gleichnis des eigenen Lebens betrachten könnte. Moonee, die kleine Heldin in »The Florida Project«, hat einen Lieblingsbaum – der ist ein ganz besonderer, knorrig und knotig. Und obwohl er entwurzelt ist, wächst er doch.
Die Kindheit ist eine kostbare Zeitspanne, zumal im Kino. Da kommt es enorm darauf an, wo sie sich zuträgt. Natürlich lässt es sich nicht immer vermeiden, dass sie in der Stadt verbracht werden muss, wo sich das Spiel dann andere Felder sucht. Aber wenn das Kino die Wahl hat, sind Bäume nie ganz fern. Das gilt für »Apus Weg ins Leben« von Satyajit Ray wie für Claude Barras' Trickfilm »Mein Leben als Zucchini«, für »Mud« von Jeff Nichols und »Wer die Nachtigall stört«, für Maurice Pialats »Nackte Kindheit« wie für Luigi Comencinis »Der Unverstandene« und »El Olivo – Der Olivenbaum« von Iciar Bollain. Manchmal kann ein Kind im Kino sogar Zwiesprache mit einem Baum halten wie in »Sieben Minuten nach Mitternacht« von Juan Antonio Bayona. Und bisweilen sind die Wurzeln eines Baums so ausladend, dass darin die Seele eines verstorbenen Vaters Platz findet, wie die achtjährige Simone in »The Tree« von Julie Bertucelli glaubt. Tagtäglich erklimmt sie dessen neues Zuhause und vertraut ihm ihre Gedanken und Gefühle an. Sie hat die Gewissheit, dort Antworten auf ihre Fragen zu erhalten. Für Kinder bedeutet der Tod nicht immer das Ende der Kommunikation. Ihre Welt gehorcht einer eigenen inneren Logik. Das begreifen nicht viele Regisseure. Es braucht Talent, Geduld und Feingefühl, um Filme mit Kindern zu drehen. Filme über sie zu drehen, fordert diese Gaben in außerordentlichem Maße. Das ist eine Frage der Augenhöhe – zuweilen durchaus im Wortsinne: Wie Jacques Doillon in »Ponette« (1996) mit der Tyrannei des Blickwinkels der Erwachsenen bricht, ist betörend; es schadet nichts, diese im Anschnitt zu filmen und sich ganz auf die Kinderdarsteller zu konzentrieren. Die Nahaufnahme eines Kindergesichts mit großen, wissbegierigen Augen ist oft schon eine gewonnene Partie. Aber damit sich ihr Temperament und ihre Sensibilität entfalten können, muss die Kamera den Kindern den Raum einer Halbnahen oder Halbtotalen geben, der sie in ihrer Welt verwurzelt.
Friedhof der Kuscheltiere
Die Neugier von Filmemachern auf die Erlebniswelt von Kindern ist, historisch betrachtet, ein wiederholtes Nachkriegsphänomen. Charlie Chaplins »The Kid« von 1921 gilt als der erste Film, in dem das Innenleben eines Kindes so reich erscheint wie das eines Erwachsenen. Vier Jahre später entstehen in Frankreich zwei Meilensteine des Kinderfilms, deren Erzählimpulse Verlust oder Zurückweisung sind. »Kindergesichter« von Jacques Feyder setzt sich als eines der ersten Beispiele intensiv mit den Problemen von Kindern auseinander. Nuanciert schildert der Stummfilm die unterschiedlichen Reaktionen auf den Tod einer Mutter: Die kleine Schwester bleibt verspielt, während ihr älterer Bruder zerrissen wird vom Schmerz. Allmählich lernt er, sich zu lösen, will sich aber nicht damit abfinden, dass der Vater die Verstorbene durch eine Stiefmutter ersetzen will.
Julien Duvivier verfilmt im selben Jahr zum ersten Mal (sieben Jahre später lässt er ein Tonfilmremake folgen) die Geschichte des ungeliebten, wegen seiner Haarfarbe gehänselten »Rotfuchs«. Zuwendung erfährt der Junge allenfalls, wenn er zum Spielball im Machtkampf der Eltern wird. Seine Existenz ist ein Martyrium, dem er zwar wacker Begeisterungsfähigkeit und Tatendrang abtrotzt. Aber Duviviers Film führt zugleich vor Augen, dass einen nichts die unerträgliche Länge eines Tages so nachempfinden lässt wie der Blickwinkel eines traurigen Kindes.
Jean Vigos »Betragen ungenügend« bringt 1933 einen frischen Wind der Aufmüpfigkeit und Anarchie ins Genre. Auch bei dem Japaner Yasujiro Ozu üben die Kinder in dieser Zeit den Ungehorsam; sie wirbeln die Hierarchien der Erwachsenenwelt durcheinander, indem sie unter anderem einen Streik des Schweigens anzetteln. Seine Helden sind die wohlerzogenen Geschwister der renitenten »Kleinen Strolche«, die im amerikanischen Slapstickkino erstaunlich autonom und einfallsreich Schabernack treiben. In der Zusammensetzung der Gang leuchten bereits spätere Ideale der Diversität auf; jeder der Unruhestifter ist gleichberechtigt. In den 1930ern scheint mit dem Aufstieg zugkräftiger Kinderstars wie Shirley Temple, Judy Garland und Mickey Rooney eine Epoche energischer Unbeschwertheit anzubrechen. Aber ihre Filme eröffnen keine kindlichen Freiräume, sondern transportieren Botschaften für das erwachsene Publikum.
Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die filmische Sorge um das Kind groß (Manoel de Oliveira nahm sie 1942 mit »Aniki Bóbó« schon vorweg). Kriegswaisen werden zur zentralen Figur. Dean Stockwells Haare verfärben sich, als er in Joseph Loseys »The Boy with Green Hair« von 1948 erfährt, dass seine Eltern bei einem Luftangriff ums Leben gekommen sind. In »Verbotene Spiele« von 1952 errichten ein verwaistes Mädchen und ein Bauernjunge nach der Niederlage Frankreichs heimlich einen Tierfriedhof, für den sie Kreuze stehlen. In Venedig erhält René Cléments Film eine besondere Auszeichnung dafür, dass er »die Unschuld der Kindheit über die Gräuel des Krieges erhoben« hat. Nichts könnte falscher sein: Obwohl er sich den Blickwinkel der Kinder zu eigen macht, wirft Clément einen eminent erwachsenen Blick auf das Spiel als beunruhigende Verhaltensäußerung.
Neue Menschen werden geboren
Besonders das italienische Kino interessiert sich in dieser Epoche für Kinderschicksale. In Roberto Rossellinis »Deutschland im Jahre Null« irrt ein Junge durch das zerbombte Berlin und gerät zeitweilig in die Fänge eines pädophilen Lehrers. »Schuhputzer« und »Fahrraddiebe« von Vittorio de Sica beklagen die Verelendung und die Gefahr der Kriminalisierung. Dass in der Bildung von Banden auch ein Element von Fürsorge und Solidarität stecken kann, mag zu diesem Zeitpunkt noch kaum ein Filmemacher erkennen. In Luigi Comencinis »Razzia in Neapel« (»Proibito Rubare« heißt er im Original, Stehlen verboten) von 1948 gründet ein Missionar ein Heim für jugendliche Straßendiebe – übrigens ausdrücklich nach dem Vorbild von Pater Flanagan aus den »Boys' Town«-Filmen von MGM. Er engagiert einen Clown, um sie in seine »Città di ragazzi« zu locken, nachdem er entdeckt hat, dass sie Plakate und Schilder nicht lesen können. Ohne Aufsicht kann die Kindheit vorerst noch kein geschützter Raum sein. Der französische Verleihtitel klingt übrigens optimistischer: »Neue Menschen werden geboren«. Das Kino könnte eigentlich bereit sein, Hoffnung in die nächste Generation zu setzen.
Aber vorerst bleibt das Kind im Kino zumeist eine Chiffre der Einsamkeit. Comencini (dessen einzigartiges Talent, sich in Kinder einzufühlen, seine Verfilmungen von »Heidi« und »Pinocchio« zu den besten macht) schildert in »Das Fenster zum Lunapark« (1957) und zehn Jahre später in »Der Unverstandene«, wie viel Fremdheit zwischen Vätern und Söhnen herrschen kann. In Letzterem unterschätzt ein britischer Konsul in Florenz nach dem Tod seiner Frau den Schmerz, den sein ältester, verschlossener Sohn empfindet, und widmet sich nur dem jüngeren. Die Nuancen der gegenläufigen inneren Bewegungen, der unterschiedlichen Arten von Trauerarbeit setzt die Kamera in eine achtsame Agilität um. Wie groß die Missverständnisse, die Diskrepanz zwischen erwachsener und kindlicher Wahrnehmung sein können, führt Maurice Pialat ein Jahr später in »Nackte Kindheit« vor Augen: Da macht der Junge der garstigen Pflegemutter, die ihn nie wollte, zum Abschied ein Geschenk. Was in Kindern vorgeht, welche Vorstellungen von Anstand und Freundlichkeit sie haben, ist im Kino oft ein Überraschungsmoment.
Die Filmkinder der ersten Nachkriegsjahrzehnte sind auf der Suche nach Gefährten, finden sie in Spielzeugen (»Der rote Ballon«), in Tieren (in »Kes« von Ken Loach ist es ein Falke) und in den Geistern von Verstorbenen. Der kleinen Ana in »Züchte Raben« (Carlos Saura, 1976) erscheint regelmäßig die an Krebs gestorbene Mutter. In der Zusammenschau mit »Der Geist des Bienenstocks« (Victor Erice, 1973) legt Sauras Film nahe, dass im spanischen Kino das Trauma des Krieges bis zum Ende der Franco-Ära nachwirkt.
Nicht in der Schule, vom Leben lernen sie
Mit François Truffauts »Sie küssten und sie schlugen ihn« tritt jedoch 1959 eine andere Sichtweise hervor. Der von seiner Mutter ungeliebte Antoine Doinel schwänzt die Schule – dafür gibt es im Französischen die schöne Redewendung »faire l'école buissonière«, die darauf besteht, dass die verpassten Unterrichtsstunden ebenso lehrreich sein können. Truffaut interessiert das Erwachen von Gewissen und Gerechtigkeitssinn; die Welt der Erwachsenen erscheint seinen Kinderfiguren als eine der empörenden Straflosigkeit. Indes sind sie auch in »Taschengeld« (1976) nie verlegen darum, ihre Tage unterhaltsam zu füllen. Die zwei widersprüchlichen Grundimpulse beim Filmemachen – Freiheit und Kontrolle –, ringen in Truffauts Kinderfilmen miteinander. »Der Wolfsjunge« (1969) muss seinem strengen Lehrer jeden Moment der freien Zeit abtrotzen. Kindheit ist im Kino immer zielgerichtet, vollzieht sich in Lern- und Entwicklungsprozessen. Unbeaufsichtigte Kinder sind den Filmemachern gegenüber rechenschaftspflichtig.
Nutzlos verstreicht auch gestohlene Zeit dementsprechend nie im Kino. In ihr brechen sich Neugierde und Schaulust ungehindert Bahn. Das Medium selbst wird, etwa bei den Kinobesuchen in »Der Geist des Bienenstocks« und »Taschengeld«, zu deren privilegierten Agenten, ebenso wie seine Vorstufen: das Bioskop in Apus Kindheit oder die Laterna Magica in »Razzia in Neapel« sowie in Ingmar Bergmans »Fanny und Alexander« (1982).
Kameraden der Erwachsenen
Meist findet die kindliche Aneignung der Welt in den Kulissen des Erwachsenenlebens statt. Scout und Jem verfolgen in »Wer die Nachtigall stört« (1962) Tag für Tag aufmerksam, wie ihr Vater in den Südstaaten der 1930er Jahre einen Schwarzen vor Gericht verteidigt. Der Gerichtssaal wird zum Dekorum eines Erfahrungsprozesses, der seinen Abschluss darin findet, dass sie Freundschaft mit dem Nachbarsohn schließen, den sie zuvor als Unhold fürchteten, der aber kleine Habseligkeiten in einem Astloch als Botschaften für sie hinterließ. Das Thema der Überwindung von Vorurteilen erzählt Robert Mulligan in der Parallelführung von Öffentlichkeit und kindlicher Privatsphäre. Die sich selbst überlassenen Geschwister in »Züchte Raben« wiederum üben das Erwachsenenleben spielerisch ein. Sie kostümieren und schminken sich wie die verstorbenen Eltern und stellen im Rollenspiel deren Ehekonflikte nach. Ana, die mittlere unter ihnen, wirft verbotene Blicke durch halb geschlossene Türen und ertappt die Erwachsenen ziemlich oft beim Sex. Auch Kinderspiele wie die Schatzsuche (oder in Rob Reiners Stephen-King-Verfilmung »Stand by Me« die Suche nach einer Leiche) dienen der Initiation in die Realitäten und Wertvorstellungen des Erwachsenendaseins.
Morbide Fantasien oder gar Todessehnsucht spielen oft eine zentrale Rolle in Kinderfilmen. Das Vorhaben der Jungen in »Stand by Me«, die Leiche zu finden, verliert im Verlauf seiner Umsetzung jedoch seinen makabren Charakter. Es bleibt ein Spiel, wenn auch kein argloses. Waisen, Heim- oder Pflegekinder, die vergeblich auf den Besuch der Eltern warten, gehören nach wie vor zum Grundbestand des Genres. Aber sie dürfen anders mit Verlust und Trauma umgehen. Für die kleine, ethnisch diverse Gemeinschaft aus dem Pflegeheim in »Mein Leben als Zucchini« ist die pfiffige Utopie der »kleinen Strolche« längst selbstverständlicher Alltag geworden.Die Kinder sind einander eine Stütze. Der Grobian Simon, der alle piesackt, darf zum heimlichen Zentrum dieser solidarischen Truppe werden.
Das Kino hat nicht zwangsläufig aufgehört, sich Sorgen zu machen. Aber es hat gelernt, die Robustheit der Kinder zu respektieren. »Nobody Knows« (2004), zu dem Regisseur Hiroku Kore-eda von einer wahren Begebenheit inspiriert wurde, handelt von einem entsetzlichen Abdanken aus der Elternrolle: Eine Mutter lässt ihre vier Kinder allein in der Wohnung zurück. Die Nachbarn wissen gar nicht von ihrer Existenz. Bald erstirbt die Hoffnung auf ihre Rückkehr. Die Kinder sind dazu verdammt, als blinde Passagiere des Alltags weiter zu existieren. Sie verwahrlosen zusehends. Die impressionistische Erzählstruktur verleiht den tragischen Ereignissen eine verstörende Unaufgeregtheit. Was eigentlich eine grausame Zumutung des Lebens ist, vollzieht sich für die Kinder im Fluss des Alltäglichen. Unbefangenheit und Spieltrieb lassen sie die Kluft in ihrem Leben tapfer parieren. Kore-eda gewährt ihnen Momente triumphierender Heiterkeit, zieht darunter freilich augenblicklich einen Boden des Bekümmertseins ein, was ein Ausweis seiner erzählerischen Redlichkeit ist.
Auch »The Florida Project« trägt der kindlichen Gabe, selbst prekäre Lebenslagen als Selbstverständlichkeit zu nehmen, Rechnung. Sean Baker zeigt eine wesentlich vaterlose Welt. Die Kinder teilen in den engen Zimmern der Motels und Sozialwohnungen um Disney World buchstäblich die Betten mit den Müttern. Die Vertrautheit ist groß, auch ein wenig gedankenlos: Es müssten Abstände gewahrt bleiben, die Mütter müssten sich in die Auffassungsgabe ihrer Kinder hineinversetzen. Das ist heute oft das Kinoschicksal von Kindern: Sie müssen zu Kameraden ihrer Eltern werden. Dazu braucht es Vertrauen in die Verhältnisse, eine Zuversicht, die ihnen Filmemacher vor ein, zwei Generationen noch nicht zu unterstellen wagten.
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