Gerhard Midding

Gerhard Midding ist freier Autor für Tageszeitungen (Berliner Zeitung, Die Welt), Zeitschriften (epd Film, filmbulletin) sowie Radio-(rbb Kulturradio) und Fernsehsender (3sat). 

Filmkritiken von Gerhard Midding

Der Titel von Éric Besnards neuer bukolischer Komödie ist Programm: Es geht darum, was »wirklich zählt« im Leben. Ein quirliger Geschäftsmann (Lambert Wilson) wird vom Gehetztsein seiner urbanen Existenz erlöst, als er in den Bergen auf einen schroffen Aussteiger (Grégory Gadebois) trifft. Das Drehbuch schlägt der eigenen Vorhersehbarkeit sachte Schnippchen – und dank der Spielfreude der Darsteller erweisen sich die Lebenslektionen als erfreulich wechselseitig.
Sensibel setzt Carine Tardieu die Liebe, die zwischen einer Frau von 70 Jahren (Fanny Ardant) und einem 45-Jährigen (Melvil Poupaud) ausbricht, in Szene. Bald jedoch schwenkt die wehmütige Komödie hinüber ins Melo. Das einfühlsame Ensemble (allen voran Cécile de France als betrogene Ehefrau) setzt derweil jede Figur in ihr Recht.
Crialeses persönlichster Film ist zugleich eine Hommage an seine Mutter wie an die Widerstandskraft der Träume, die die Welt magisch verwandeln können.
Christopher Nolans episches Biopic des Vaters der Atombombe ist ein Kabinettstück der kinetischen Einfühlung in eine Zeit der wissenschaftlichen Paradoxien und ethischen Dilemmata. Cillian Murphy und Emily Blunt ragen heraus aus einem Ensemble, das so hochkarätig ist, dass noch jeder Kurzauftritt unvergesslich ist.
An der Entschlossenheit, die der deutsche Verleihtitel verspricht (im französischen Original ist von Hartnäckigkeit, ja Verbissenheit die Rede), gebricht es der Radiomoderatorin Sara zusehends. Vielmehr ist sie zerrissen, als ihre Jugendliebe Francois plötzlich wieder auftaucht und sich zwischen sie und ihren Lebensgefährten Jean drängt. Claire Denis' einfühlsame Autopsie eines Glücks beschreitet dramaturgisch ungewohnte Wege und entdeckt neue Saiten an ihren Stammschauspielern Juliette Binoche, Vincent Lindon und Grégoire Colin.
Pietro Marcello ist ein Regisseur, der sich gern selbst überrascht. Das Publikum schließt er dabei nicht aus. Nach »Martin Eden« erzählt er erneut vom Abenteuer der Entdeckung und Erkenntnis. Für seine erste französischsprachige Produktion bürstet er ein sowjetisches Märchen gegen den Strich und verwandelt sie in eine musikalische Komödie voller Abgründe. Dank seiner Hauptdarsteller Juliette Jouan und Raphael Thiéry übrigens auch einer der schönsten Hände-Filme schlechthin.
Eigentlich müsste diese melancholische Komödie um einen aus der Zeit gefallenen Macho, der spät väterliche Gefühle entwickelt, ein Starvehikel für Frank Dubosc sein. Aber der Hauptdarsteller, Regisseur und Autor überlässt die trefflichsten Gags seinen Leinwandpartnern; namentlich Michel Houellebecq, der in der Rolle eines Kardiologen als vergnügter Schwarzmaler glänzt.
Nach 40 Jahren kehrt Felice in sein altes Viertel in Neapel zurück, aus dem er als jugendlicher Ganove fliehen musste. Inzwischen ist er zum Islam konvertiert und hat es in Kairo zu einem erfolgreichen Bauunternehmer gebracht. Aber wie viel Heimat steckt noch in ihm? Mario Martones Film versenkt sich tief in die Atmosphäre seines Schauplatzes, der neben der magnetischen Besetzung (angeführt von Pierfrancesco Favino in demütiger Hochform) eine Hauptrolle spielt.
Laura Poitras' in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichneter Dokumentarfilm ist das Porträt einer Überlebenden: Die Fotografin Nan Goldin hat eine traumatische Kindheit und die AIDS-Krise überstanden, nun kämpft sie gegen die Opioidkrise, die in den USA bislang 500 000 Todesopfer forderte. Poitras zeichnet ein intimes, lebhaft vielschichtiges Bild der Künstlerin, deren Fotos das Publikum zweifach betreffen, aus historischer Distanz genauso wie aus unmittelbarer Nähe.
Die Reihe ihrer filmischen Familienaufstellungen ergänzt Ursula Meier diesmal um das Element weiblicher Gewalt. Nach dem Angriff auf ihre Mutter wird die 35-jährige Margaret mit einem Kontaktverbot belegt. Dennoch drängt sie auf Teilhabe am Familienleben. Stéphanie Blanchoud ist als verzweifelt rauflustige Tochter das Ereignis des Films, der aber vielstimmig zwischen weiteren Konfliktfeldern navigiert.