Kritik zu Overgames
Der Dokumentarfilmer Lutz Dammbeck hat endlich wieder geliefert – einen Essay über Fernsehshows, die wirre Psyche der Deutschen und die permanente Medienrevolution
Man mag irritiert von der schieren, fast dreistündigen Länge dieses Dokumentaressays sein – aber schließlich geht es um fast zweihundert Jahre Geschichte und Ideengeschichte, die in unsere heutige Medienwelt münden. Dammbeck erklärt sie uns spielerisch und assoziativ, mitunter mit unterhaltsamen Abschweifungen, aber auch ausgefeilten Erklärungen im Off-Kommentar.
Am Anfang des Films – und seiner Entstehungsgeschichte, wie Dammbeck immer betont – stand eine Talkshow mit Anne Will und Showgrößen wie Alfred Biolek, Rudi Carrell, Hape Kerkeling und Joachim Fuchsberger, die 2005 gesendet wurde. Fuchsberger erzählt dort, dass er das Konzept seiner Gameshow »Nur nicht nervös werden...« übernommen hat vom amerikanischen Vorbild »Beat the Clock«. Solche Shows seien in der amerikanischen Psychiatrie entwickelt worden für psychisch gestörte Menschen. Und als Carrell ihn fragt, wie viele Menschen zugesehen hätten, antwortet er: »Eine Nation! Eine verrückte Nation! Eine psychisch gestörte Nation!«
Das ist natürlich eine Steilvorlage, und Dammbeck macht sich mit seinem Rucksack auf in die USA, um mit Veteranen der Gameshow-Szene zu sprechen. Mehr noch als seine früheren Filme ähnelt Overgames einem Recherchebericht, und man sieht auch oft den Filmemacher, wie er Filme am Bildschirm betrachtet oder Fotos sortiert. Dammbeck interviewt etwa Maggy von Ostrand, die Sekretärin des legendären Showproduzenten Mark Goodson, der auch »Beat the Clock« produzierte. Das ist quasi das erste Kapitel.
1960 wurde Fuchsbergers Show zum ersten Mal gesendet. Fünfzehn Jahre nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus. Und Dammbeck stößt auf ein Buch des Psychologen Richard M. Brickner aus dem Jahr 1943, der den Deutschen eine hochgradige Paranoia diagnostiziert. Ein Volk, das geheilt, dessen Umerziehung eingeleitet werden muss. 1944 dachten amerikanische Wissenschaftler über eine solche Reeducation nach, über eine Umerziehung aus dem Geist der anthropologischen Wissenschaft um Brickner und Margaret Mead. Das ist das zweite Kapitel.
Aber Dammbeck bohrt noch tiefer, denkt darüber nach, wie sich die Ideen der Französischen und Englischen Revolution im Staatsgebilde der USA festgesetzt haben, stößt auf die Idee der permanenten Revolution – die sich vielleicht im Kapitalismus mit seiner Medienwelt am reinsten wiederfindet.
Overgames ist ein Puzzle, das im positiven Sinne mäandert, das den Fluss der Erkenntnis mal konzentriert verbreitet, mal tröpfeln lässt. Der Film hat, wie sein Ausgangsmaterial, immer auch etwas Spielerisches, Lockeres. Am Ende, so viel sei verraten, gibt es keinen genauen Anhaltspunkt für Fuchsbergers These. Aber wer weiß, vielleicht wurden wir Deutschen ja doch durch Fernsehshows vom Gift des Faschismus befreit?
... zum Werkporträt »Lutz Dammbeck – Ein Dissident der Form«
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