Pietro Marcello: Eine neue Zeitrechnung
Pietro Marcello am Set von »Für Lucio« (2021). © Arianna Quagliotto
Bei dem italienischen Regisseur Pietro Marcello stehen Gegenwart und Vergangenheit, Fakten und Fiktion in einer komplexen Beziehung
Das Brot, sagt Martin, als er es in die Pastasoße tunkt, ist die Bildung, mit der sich die Armut aufsaugen lässt. Der junge Matrose ist bereit, die Werkzeuge des Denkens in die Hand zu nehmen. Vorerst wirkt er fehl am Platze im Haus der reichen Orsini. Seine rauen Manieren verletzen die Tischsitten. Aber seine Gastgeber lassen ihn gewähren; aus Dankbarkeit, weil er Sohn Arturo vor einer Schlägerei gerettet hat. Seine Schwester Elena könnte sich in den ungeschlachten Mann verlieben, wenn er Erfolg hätte und sein Gebaren standesgemäßer wäre.
In Jack Londons Romanvorlage wird Martin Eden in der großbürgerlichen Villa insgeheim als ein »interessanter Wilder« vorgestellt. Das hört er nicht, spürt aber die soziale Demütigung und nimmt sie als erbitterten Ansporn. Er wird den Erfolg um jeden Preis suchen. Bei Pietro Marcello ist Martin (Luca Marinelli) ebenso »hoffnungslos selbstbewusst«, wie ihn London beschrieb. Aber seine Herkunftsscham stellt für ihn ein geringeres Hindernis dar. Er will die Welt nicht erobern, er will sie besiegen. Es ist freilich eine andere Welt, in der die Verfilmung ihn stellt: Aus dem San Francisco des Romans ist Neapel geworden und aus dem 19. ein unbestimmtes 20. Jahrhundert, in dem es Tonbänder gibt, in dem Briefe mit der Rohrpost verschickt werden und Martin die Geschichten und Romane, die ihm Ruhm bringen sollen, auf der Maschine schreibt. Welch kühne kulturelle Aneignung!
Marcello erzählt von einer spirituellen Entwurzelung – Martin wird von Erfolg, Reichtum und Verbürgerlichung korrumpiert, liebäugelt mit dem Sozialismus, um dann zum Vertreter eines unerbittlichen Individualismus' zu werden. Aber der Film verankert diese Entwicklung tief in einem Italien, in dem sich die politischen Aufbrüche auf den Straßen manifestieren.
Sein Vokabular und die Grammatik zu erweitern, ist nicht nur die Aufgabe, die Martin sich stellt. Sie ist auch das Mandat des italienischen Regisseurs. Souverän wirbelt er Stilmittel und Filmmaterial durcheinander, mischt Spielszenen mit Wochenschaubildern, Fragmenten einer offiziellen und privaten Filmgeschichte, die er nachkoloriert wie alte Postkarten. Marcello vermählt in »Martin Eden« das Erzählkino mit dem Experimentalfilm. In seinem offiziell ersten Spielfilm kulminieren die ästhetischen Suchbewegungen des Regisseurs, dessen Arbeiten komplex und voraussetzungsvoll sind und zugleich von zugänglicher Poesie. Sie werden von großer ideologischer Strenge bestimmt, aber ihre Weltanschauung ist von entschlossener Offenheit.
Marcello wird 1976 in Caserta in Kampanien geboren. Ein Kunststudium bricht er ab, weil er sich nicht begabt genug findet; in der Komposition seiner Bilder wird es jedoch nachdrückliche Spuren hinterlassen. 2003 fängt er an, Kurzfilme zu drehen. Vier Jahre später entsteht sein erster langer Dokumentarfilm »Il passaggio della linea« (Das Überschreiten der Grenze), der vielstimmig von Arbeitsmigranten erzählt, die in Nachtzügen reisen; bald liegt der Schwerpunkt auf einem älteren Fahrgast, Arturo Nicolodi, der sich als Weltbürger versteht und sein Leben als Zugnomade zubringt. »La bocca del Lupo« (Das Maul des Wolfs) erregt 2009 auch internationales Aufsehen. Es ist ein Porträt der Hafenstadt Genua und zugleich das eines ungleichen Paares: Erzählt wird von der Liebe des alternden Ganoven Enzo zu dem Transmenschen Mary, welche die langen Haftstrafen Enzos und die Heroinsucht Marys wacker übersteht. »Il silenzio di Pelesjan« (Das Schweigen Peleschjans) von 2011 ist eine Annäherung an einen Verschollenen der Filmgeschichte, den armenischstämmigen Regisseur Artavasd Peleschjan, der die Montageprinzipien des Sowjetkinos eigenwillig neu formulierte.
Erst vier Jahre später kommt das dokumentarische Märchen »Bella e perduta – Eine Reise durch Italien« heraus, das von einem wundersamen Trio handelt: einem sprechenden Büffel namens Sarchiapone, einem sorgsamen Harlekin (Pulcinella) sowie dem Hirten Tommaso, der sich ausgesetzter Tiere annimmt und als freiwilliger Schutzengel gegen den Verfall des einst prunkvollen Bourbonen-Palastes in Carditello ankämpft. Auf »Martin Eden« folgt »Per Lucio« (Für Lucio), der auf der diesjährigen Berlinale Premiere feierte. Es ist ein Porträt des Sängers Lucio Dalla, dessen canzone von einer widerständigen, hingebungsvollen Volkstümlichkeit sind, in denen sich die Umbrüche der italienischen Nachkriegsgesellschaft spiegeln. Seit einigen Jahren verfolgt Marcello ein weiteres Spielfilmprojekt: »Il Cargo«, eine Verfilmung von Georges Simenons Roman »Auf großer Fahrt«, wo es ein flüchtendes Paar auf ein Frachtschiff verschlägt, das Waffen transportiert für lateinamerikanische Anarchisten.
Marcellos bisherige Karriere könnte man als den Versuch lesen, die Grenzen des Dokumentarischen zu sprengen – würde er nicht mit »Per Lucio« in diesen ästhetischen Rahmen zurückfinden. Eigentlich ist er ihm bis dahin nur in seinem ersten Langfilm verpflichtet geblieben. »Il Passaggio della linea« schöpft die visuellen Möglichkeiten einer realistischen Darstellung des Zugverkehrs fulminant aus, entwickelt in Parallelfahrten und gegenläufigen Bewegungen eine ganz eigenständige Agilität der Kamera. »La Bocca del Lupo« enthält bereits märchenhafte Elemente (»Es war einmal in einer Stadt …«); inszenierte Szenen schüren die Ahnung, dass sich Enzos Geschichte auch als Fiktion erzählen ließe. In »Bella e perduta – Eine Reise durch Italien« stellt Marcello Laien professionelle Darsteller an die Seite; den inneren Monolog des Büffels spricht Elio Germano.
Diese auf den ersten Blick unterschiedlichen Filme antworten einander. Die dokumentarische Künstlerbiografie »Per Lucio« ist eine Erwiderung auf die fiktive, die Marcello in »Martin Eden« erzählt. Auf das Schweigen Peleschjans folgen in »Bella e perduta« die Beredsamkeit des Büffels, der das Gemüt eines Dichters besitzt, und das Verlangen Pulcinellas, die Sprache zurückzugewinnen, um seine Geschichte erzählen zu können und später den Lebenden zu berichten, was ihm die Toten anvertraut haben. Diesem künstlerischen Entwicklungsprozess wohnt eine poetische Wachsamkeit inne: Keine der Figuren, die Marcello in Szene setzt, erscheint ihm prosaisch. Sie mögen »bescheidene«, verborgene Existenzen führen, aber er ist fasziniert vom Charisma der Außenseiter, zu denen man auch den unverhofften Popstar Lucio Dalla zählen darf. Marcellos großes Thema ist der Wandel Italiens von einer agrarischen Gesellschaft zu etwas, das er als aufgezwungene Industrialisierung begreift. Aber sein Blick auf das Bezeichnende zielt nicht auf das, was beispielhaft oder repräsentativ ist, sondern was als individuelle Erfahrung für sich stehen darf.
Auch seinen eigenen Weg geht er, abgesehen von einigen verschworenen Gefährten wie dem Drehbuchautor Maurizio Braucci und der Cutterin Sara Fgaier, allein. Er hat keine Vorbilder, an denen er Maß nehmen will, beruft sich auf keine Tradition, die dem Kino geläufig wäre. Der italienische Neorealismus (in der Spielart Roberto Rossellinis) und das sowjetische Montagekino haben ihn beeinflusst, wodurch sich der Zauber seiner Filme aber nicht dingfest machen lässt. Der Büffel in »Bella e perduta« ist kein Seelenverwandter des Esels in Robert Bressons »Zum Beispiel Balthazar«.
Marcello gehört der gleichen Generation wie Michelangelo Frammartino an (»Bella e perduta« hat mit dessen »Vier Leben« eine animistische Erzählperspektive gemeinsam), ist aber wie dieser ein Solitär. Marcellos Filme mögen Berührungspunkte haben mit denen anderer Regisseure, beziehen sich aber nicht auf sie. Wie bei Truffaut werden in »Martin Eden« Briefe frontal in die Kamera gelesen, aber der Franzose ist keine Referenz für Marcello. Sein Filmgeschmack ist vorurteilsfrei – er schätzt Larissa Schepitko und Elem Klimow, Jacques Demy, Agnès Varda und Jacques Tati –, aber keinesfalls beliebig: Er setzt sich mit Regisseuren auseinander, in deren Werk Zeit, Erinnerung und Wirklichkeit eine politische Dimension gewinnen. Vor Artavasd Peleschjan hat er großen Respekt: Da in dessen Filmen kaum Platz für Dialoge ist, darf er auch in seinem Porträt schweigen. Was mag der Veteran jedoch zu dem Soundtrack gesagt haben, auf dem nicht nur Bach und Verdi erklingen, sondern auch der Easy-Listening-König Ray Coniff, aus sowjetischer Sicht zweifellos ein Klassenfeind?
Seine Filme dreht Marcello auch insofern auf eigene Rechnung, als er sie (mit-)produziert. Er operiert in einer fragilen Ökonomie, was dadurch kompliziert wird, dass er noch analoges Filmmaterial benutzt. »Martin Eden« hätte er gern vollständig auf 35 mm gedreht, doch das Budget ließ es nicht zu. Das Festhalten am Zelluloid ist kein Dogma, sondern entspricht einfach einer Vorliebe des Filmemachers, der als sein eigener Kameramann einen haptischen Zugriff auf Geschichten sucht.
Das Unstete seiner Schauplätze – oft Hafenstädte, allgemein Orte des Transits –, schlägt sich in der Herangehensweise nieder. Was Lucio Dallas Manager im dem Porträt über den Sänger sagt, trifft ebenso für den Regisseur zu: »Er tat nie das, was man erwartete.« Marcello begreift seine Projekte als offene Entwürfe, beim Drehen lässt er ein etwaiges Vorhaben rasch hinter sich: »Il bocca del lupo« begann als Auftragsarbeit einer jesuitischen Stiftung und sollte von Obdachlosen in Genua handeln; der Tod des Hirten Tommaso gab »Bella e perduta« eine andere Richtung. Das Geschriebene soll verraten werden, erst recht im Schneideraum: Luca Marinelli berichtet, das Drehbuch zu »Martin Eden« habe 300 Seiten umfasst. Es braucht eine gewisse Zeit, um sich in Marcellos Filmen zurechtzufinden, die Protagonisten schälen sich aus ihrer Erzählung erst allmählich heraus. Der Bewusstseinserzählung eines Büffels zuzuhören, ist eine anspornende Irritation. Marcellos Erzählstrategien fordern das Publikum auf, die Handlungsräume eigenständig zu erkunden.
Darin steckt die Zuversicht eines Idealisten, vor allem eines Romantikers. Marcello vertraut darauf, dass seine Montage kein Erzähllabyrinth ist, das einschüchtert oder in dem man irregehen kann. Sie ist assoziativ, verknüpft Material unterschiedlicher Herkunft, um jeder Situation in der Vielfalt ihrer Aspekte filmisch gerecht zu werden. Da gilt es auch, Widersprüche auszuhalten. Was durch Schnitte oder Überblendungen verbunden wird, kann sich mitunter fremd bleiben. Die Leben, von denen Marcello erzählt, reimen sich nicht. Wenn er auf Archivmaterial zurückgreift, setzt er es einerseits schlüssig als Kontrapunkt, als Kommentar oder metaphorische Bekräftigung ein. Vor allem jedoch legt er so das filmische Inventar eines Ortes, einer Klasse, einer Idee an.
Die Zeitebenen kommunizieren miteinander. Der Hirte Tommaso kann den Palast von Carditello inspizieren, während man auf der Tonspur bereits seinen Nachruf hört: Seine Präsenz wirkt fort. Bei Marcello hat jeder Moment seine Vergangenheit und alles Sichtbare seine Wurzeln: Zu Peleschjans Aufnahmen eines Kosmonauten gesellen sich Ansichten von Flugpionieren und Ballonfahrern. Die Historie ist nie vergangen bei diesem Regisseur. So kann Martin Edens Geschichte das gesamte 20. Jahrhundert durchqueren. Er lebt in einem fiebrigen Jetzt, das mit den Requisiten früherer Epochen drapiert ist, die für Marcello nicht erloschen sind. Die politischen Umbrüche sind nicht zeitlos in seinem Film, er arrangiert nur ihre Chronologie in der Reihenfolge, die ihm richtig erscheint. Sein Protagonist erschrickt, als er gegen Ende sein früheres Ich erblickt. Aber zu keiner Zeit ist Martin ein Anachronismus. Heute würden wir ihn einen Herold des Neoliberalismus nennen.
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