Filmfestival von Venedig: Überwältigende Formenvielfalt
© Biennale di Venezia
Die Filme des 73. Filmfestivals von Venedig spiegelten das Kino in seiner großen Vielfalt wieder. Und die deutsche Paula Beer wurde zur besten Nachwuchsschauspielerin gekürt
»Alle Filme sind gleich, aber manche sind gleicher als andere« – ausgerechnet mit diesem George-Orwell-Zitat eröffnete Jury-Präsident Sam Mendes die feierliche Preisverleihung, mit der am Samstag die diesjährigen 73. Filmfestspiele von Venedig zu Ende gingen.
Der Brite, Regisseur der zwei letzten James-Bond-Filme, drückte mit diesem vertrackten Zitat aber nicht nur die »Qual der Wahl« aus, vor der er sich und seine Jurykollegen – zu denen auch die deutsche Schauspielerin Nina Hoss zählte – gestellt sah. Ironisch gab Mendes damit auch zu verstehen, dass die um den Goldenen Löwen konkurrierenden Filme im diesjährigen Wettbewerb der »Mostra« gewissermaßen in Form, Farbe und Geschmack so verschieden waren, dass sie sich kaum miteinander vergleichen lassen.
Wie soll man ein knapp vierstündiges Drama, das Motive einer Tolstoi-Erzählung aus dem 19. Jahrhundert um Verbrechen, Rache und Erlösung in die philippinische Gesellschaft der 90er Jahre adaptiert, vergleichen mit einem amerikanischen Psychothriller, der in der Hochglanzwelt reicher Kunsthändler in Los Angeles spielt? Die Entscheidung, den Goldenen Löwen an den Film »The Woman Who Left« des philippinischen Regisseurs Lav Diaz zu verleihen, lässt sich als Signal sehen für ein Kino, das sich der kommerziellen Auswertung verweigert und dafür auf Authentizität und künstlerische Eigenart besteht.
Die vermeintlich radikale Entscheidung für ein Kino des »Anderen« konterte die Jury in Venedig mit der Vergabe des Grand Prix, gewissermaßen der »Silbermedaille« des Festivals, an den ehemaligen Modemacher Tom Ford und seinen Thriller »Nocturnal Animals«. Statt Schwarz-Weiß in Farbe, statt langer Einstellungen schnelle Schnitte, statt »Natürlichkeit« und »Authentizität« Hollywoodschauspieler wie Amy Adams und Jake Gyllenhaal: In der gesamten Filmsprache könnte es kaum einen größeren Gegensatz geben als den zwischen »Nocturnal Animals« und »The Woman Who Left«. Und das, obwohl es auch im Thriller von Tom Ford um Rache, Vergebung und den langen Schatten der Vergangenheit geht.
Das Signal, das vom Festival in Venedig in diesem Jahr ausgeht, scheint deshalb zu lauten: Alles ist möglich; es gibt keine Verbindlichkeit der Form mehr, ob Schwarz-Weiß oder 3D, ob Western oder Naturdokumentation, Gesellschaftssatire oder Konzentrationslagerdrama – jeder Film sucht sich seinen eigenen Kanon, sein eigenes Format.
Die Distanz, die dabei von Film zu Film überwunden werden muss, ist oft erstaunlich und wird den einzelnen Zuschauer überfordern: So ist es schwer vorstellbar, dass diejenigen, die »The Untamed«, den mit Horror- und Science-Fiction-Elementen versetzen Sexthriller des jungen mexikanischen Regisseurs Amat Escalante, gut finden, auch das strenge Konzentrationslagerdrama »Paradies« des Russen Andrei Konchalovsky zu schätzen wissen. Der 37-jährige Mexikaner aber musste sich mit dem 79-jährigen Russen den Regie-Preis teilen.
Der Spezialpreis der Jury ging an den dystopischen Western »The Bad Batch« der jungen iranisch-amerikanischen Regisseurin Ana Lily Amirpour. Diese hat sich das Unterlaufen von Erwartungen sozusagen zum Programm gemacht. Sie demonstriert damit auch, dass ihr als Regisseurin heute fast mehr Ausdrucksmöglichkeiten offenstehen als noch einer Präsidentengattin in den 60er Jahren. Deren Rollenzwänge am Beispiel von Jacqueline Kennedy hat der chilenische Regisseur Pablo Larraín in seinem Biopic »Jackie« und Natalie Portman in der Hauptrolle perfekt auf den Punkt gebracht. Für das Drehbuch, das die Tage rund um das Attentat auf John F. Kennedy nachstellt, wurde Noah Oppenheim ausgezeichnet.
Vergleichsweise konventionell zeigte sich die Jury dagegen in der Auswahl der Schauspielpreise, die nach Nord- beziehungsweise Südamerika gingen: An die US-Amerikanerin Emma Stone für ihren Auftritt im Retro-Musical »La La Land« und an den Argentinier Oscar Martinez für seine Verkörperung eines an seinen Heimatort zurückkehrenden Literaturnobelpreisträgers in »The Distinguished Citizen«.
Eine schöne Überraschung gab es unterdessen fürs deutsche Kino: Zur besten Nachwuchsschauspielerin wurde die junge Schauspielerin Paula Beer gekürt. Sie spielt im deutsch-französischen Drama »Frantz« von François Ozon die Verlobte eines im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten, die sich nach Kriegsende in einen Franzosen verliebt. Angesichts ihres Könnens und ihrer Ausstrahlung muss man sich über die Zukunft des Kinos, egal in welcher Form oder Farbe, eigentlich keine Sorgen machen.
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