Kritik zu Wild Tales

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Die Kunst der Kettenreaktion: Damián Szifróns Episodenfilm über die alltägliche Eskalation der Gewalt machte in Cannes Furore und wird seither weltweit als Beleg für die erzählerische Wucht des argentinischen Kinos gefeiert

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Es ist verführerisch, diese wilden Erzählungen hochzurechnen auf eine Bestandsaufnahme des heutigen Argentinien. Episodenfilme erwecken ja gern den Eindruck des Panoramablicks. Gewiss wird nicht jede Alltagsbegegnung dort gleich in Mord und Totschlag enden. Aber Damián Szifrón sammelt genug Indizien, damit der Zuschauer zum Urteil gelangt, diese Gesellschaft sei mächtig aus den Fugen geraten.

Zorn ist die Triebfeder dieser sechs raffiniert konstruierten Miniaturen, deren Endreim meist die Vergeltung ist, die aber stets eine unvorhergesehene Wendung nehmen, die den moralischen Gewissheiten den Boden entzieht. Gleich in der ersten Episode wird der Zuschauer unwiderruflich entsichert: Flugpassagiere müssen feststellen, dass sie sich allesamt auf Einladung eines Mannes in der Maschine befinden, dem sie in der Vergangenheit übel mitgespielt haben. Sodann erkennt eine Kellnerin unter ihren Gästen den Kredithai wieder, der ihren Vater in den Selbstmord trieb. In der dritten Geschichte eskaliert ein Überholmanöver; in der vierten setzt sich ein Sprengmeister gegen bürokratische Willkür zur Wehr; in der fünften soll Bestechung helfen, damit ein fahrerflüchtiger Sohn ungestraft davonkommt; im letzten Segment schließlich gerät eine Hochzeitsfeier aus dem Ruder, als die Braut die Untreue ihres Mannes entdeckt.

Ungerechtigkeit, soziale Differenz und Korruption sind die Auslöser dieser filmischen Kettenreaktionen. Szifróns Figuren ziehen die Welt zur Rechenschaft; ohne Rücksicht auf Verluste. Die Dramaturgie der Verheerungen ist schlüssig, nie käme man auf die Idee, die Konflikte hätten einen anderen Verlauf nehmen können. Der Vorspann ließ schon erahnen, dass sich der Firnis der Zivilisation als verstörend dünn erweisen wird. Die Idee des Menschenmöglichen erweitert Wild Tales um ungekannte Facetten des Makabren. Javier Julias Kamera schaut zuweilen mit anthropologischer Neugier auf dieses Welttheater der Niedertracht. Sie wählt dazu verstiegene Perspektiven, blickt aus dem Gepäckfach einer Flugzeugkabine, aus einer sich öffnenden Garagentür. In der Hochzeitsepisode entlarvt der Blick auf Spiegel eine Vielzahl von Lebenslügen.

Den Zuschauer versetzt die Kaskade der Geschehnisse in ein Wechselbad der Reaktionen: Komplizenschaft, Schadenfreude und Schrecken lösen einander ab. Szifróns erzählerisches Vergnügen an der kathartischen Entladung der Gewalt erschöpft sich nicht im Zynismus. Er ist nicht smart auf tarantinoeske Weise, sondern gibt der Ambivalenz Raum. In seinem sarkastischen Elan lässt sich ein spätes Echo der Commedia all’italiana vernehmen, deren subversive Sittenstudien ein halbes Jahrhundert zuvor enorme Erfolge in den argentinischen Kinos feierten. Die Widerhaken jedenfalls, die Szifrón mit seinen Wild Tales in die gesellschaftlichen Verhältnisse schlägt, weisen ihn als würdigen Erben dieser lustvollen Exerzitien filmischer Anarchie aus.

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