Retrospektive: »Die andere Seite« (1931)
Ein Kriegsfilm, der (fast) keinen Kampf zeigt. »Die andere Seite« will, laut Vorspann, nicht die Stimmung des Kriege, nicht die Romantik des Kämpfens zeigen, sondern Menschen, die sich aufrechterhalten wollen. Wir marschieren mit der Kompanie in die Gräben; für sechs Tage sollen die Soldaten ausharren. Eine Großoffensive des Feindes soll es geben. Man wartet. Raucht. Trinkt. Verdrängt. »Es gibt Grenzen dessen, was ein Mann aushalten kann!«, ruft der Hauptmann, er ist ein alter Kämpe, seit drei Jahren an der Front. Nerven zerrüttet, starker Trinker. Er ist nicht mehr, der er einst war. Daran wird er deutlich erinnert durch den neuen Offizier, frisch von der Schule: Ein alter Bekannter aus der Heimat, dessen Schwester ist die Verlobte des Hauptmanns. Scham und Schuld – was ist aus diesem Hauptmann geworden?
Conrad Veidt spielt ihn, unglaublich intensiv, ein Verlorener, der auf seinem Posten stehen muss, für seine Männer einstehen muss, der sich selbst vergessen hat, schon lange. Um es für heute vergleichbar zu machen: Immer wieder scheint er wie ein Proto-Kinski, mal zart und entrückt, dann wieder heftig, zupackend, wild und heftig. Wir befinden uns meistens im Offiziers-Stollen, unter der Erde, fast ein Kammerspiel: Tatsächlich beruht dieser Schützengraben-Film auf einem Theaterstück. Auf einem englischen. Denn das ist die Clou von »Die andere Seite«: Die Soldaten, die Offiziere, das sind keine Deutschen. Das sind Engländer. Hauptmann Stanhope. Leutnant Raleigh. Der erfahrene, ruhige Oberleutnant Osborne. Oder Hibbert, das Nervenwrack – gespielt von einem glänzenden Viktor de Kowa zwischen Zusammenbruch und Kindlichkeit, der eine wahnsinnig witzige Szene hat, betrunken vor sich hinbrabbelt, seine Frauen aufzählt, um sich als Mann zu fühlen...
»Die andere Seite«: Das meint den Tod: »So viele, wie schon weg sind, so einsam kann es drüben nicht sein«, tröstet Stanhope einmal. Es ist aber natürlich auch die andere Seite der Front, die hier in einem deutschen Film, für ein deutsches Publikum gezeigt wird. Die Engländer: Sie tragen hier dieselben Erfahrungen wie das Publikum des Films in sich, die Zermürbung, die nervliche Zersetzung, das lange, lange Nichtstun, der ständige Tod... Heinz Paul hat einen Film gedreht für und über die Erfahrungen des Weltkrieges, eine ungeheuer intensive Erfahrung auch für das heutige Publikum. Distanz wird aufgehoben. Wir stecken alle drin im Matsch. Und geschickt spricht er an, was das Alltagsleben des Kriegerhandwerkes ausmacht. Die schlechte Verpflegung: Kotelett gibt es, »aber ich will mich nicht genau festlegen«, sagt der Koch. Wohl eher Kotzlett, wird ihm entgegnet. Neinnein, zubereitet ist es aus feinstem Rat... wir sehen kleine Nager weghuschen. Der Koch korrigiert sich: Feinstem Rationsfleisch. Fronthumor. Der das Schlimme erträglich macht, in den Soldatenwitzen, in den Sprüchen. »Nichts Schlimmeres, als wenn uns jemand in die Suppe spuckt« – gemeint ist der Granatenregen.
Das Essen. Die unsinnigen, gefährlichen Befehle von oben: Eine Erkundungsmission muss bei Tageslicht ausgeführt werden, um 19 Uhr ist Besprechung, da sollen die Ergebnisse daliegen. Ergebnis: Sechs von zehn Soldaten tot, ein Offizier von zweien auch gefallen. Hauptsache, der Brigadekommendeur ist glücklich.
Engländer? Deutsche? Es sind die gleichen Erfahrungen. Man wartet auf den Angriff. Zwischendurch Musik vom Grammophon: »Weit ist der Weg zurück ins Heimatland« – deutsches Liedgut, könnte aber genauso englisch sein. Zum Zeitvertreib vor dem Himmelfahrtskommando zitieren die Offiziere »Alice im Wunderland« – könnte aber auch »Max und Moritz« sein...
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