Wohl und Wehe

Richard Schickel

Ich hätte allen Grund gehabt, Richard Schickel böse zu sein. Er war schuld daran, dass Blake Edwards nie mit mir sprechen wollte. In den späten 90ern bereitete ich für den WDR eine Dokumentation über den Standfotografen Bob Willoughby vor, der spektakuläre Aufnahmen bei den Dreharbeiten zu »Das große Rennen um die Welt« gemacht hatte. Sie spiegeln die Atmosphäre auf dem Set so eindrucksvoll wider und sind so aussagekräftig, dass ich fest damit rechnete, den Regisseur als Interviewpartner gewinnen zu können.

Aber dann kam die Absage seiner Produktionsfirma. Mr. Edwards sei nicht dazu bereit, weil Willoughbys Fotos in einem Buch (»The Platinum Years«) erschienen waren, zu dem Schickel einen beißenden Kommentar geschrieben hatte. Der Spott, den er über »Das große Rennen« ausgoss, war ein Stachel, der offenbar tief saß. Als ich ein, zwei Jahre eine neuerliche Anfrage an Edwards Firma richtete – diesmal für eine Sendung über CinemaScope, ein Format, das er meisterlich beherrschte –, gab es wieder eine Absage, deren Wortlaut keinen Zweifel aufkommen ließ, dass man mein früheres Begehr nicht vergessen hatte. Damals fand derlei transatlantischer Schriftwechsel noch per Fax statt. Die zwei Ablehnungsschreiben gehören zu meinen traurigsten Erinnerungsstücken.

Mit Richard Schickel ist gestern der letzte aus der Generation der großen Meinungsmacher in der amerikanischen Filmkritik gestorben. Pauline Kael, Andrew Sarris und Richard Corliss gehörten dazu. Ihre Rezensionen hatten ein Gewicht, das man sich heute nicht mehr vorstellen kann. Schickels bullige Statur entsprach dem Bild der Kampfbereitschaft, das sich der Leser von dem Kritiker machen durfte. Seine Verrisse waren gefürchtet. Manchmal hatte er Recht. In den 70ern löste er einen Skandal aus, als er scharf mit »Vom Winde verweht« ins Gericht ging. Damit verletzte er das Feingefühl gleich mehrerer Generationen von Kinogängern. Auch ich fand ihn immer etwas quallig. Manchmal ging er auch mir zu weit. Sein Audiokommentar zu Raoul Walshs »The Big Trail« beispielsweise ist unnötig gönnerhaft. Zugleich schätzte ich ihn als großen Augenöffner. Sein Buch über Douglas Fairbanks enttäuschte mich zunächst. Meine jugendliche Schwärmerei für den athletischen Leinwandhelden der Stummfilmzeit wurde durch die Lektüre gründlich entzaubert. Den Untertitel »His Picture in the Papers« (das Zitat eines frühen Filmtitels von Fairbanks) löste das Buch aber glänzend ein: Zum ersten Mal entdeckte ich, wie emsig Hollywoodstars an ihrem eigenen Image arbeiteten und wie berechnend ihr Lächeln sein konnte.

Als Kritiker der Magazine »Life« und »Time« hatte Schickel eine echte Machtposition inne. Sein Buch über Walt Disney (»The Disney Version«) war ein veritabler Bestseller. Er verkörperte das, was Francois Truffaut bei seinen ersten USA-Besuchen an den dortigen Filmkritikern erstaunte: dass sie Filmemachern auf Augenhöhe begegneten. Der französische Regisseur vermutete, dies läge nicht zuletzt daran, dass sie gar nicht so viel weniger verdienten. Diese Zeiten, wenn es sie denn je gab, sind natürlich längst vorüber. Ohne Zweifel genoss Schickel seinen Status als Kunstrichter. Im Bonusmaterial der DVD-Edition von »Ryan's Tochter« wird er ausgiebig zum Einfluss seines damaligen Verrisses befragt. Vielleicht konnte seinerzeit tatsächlich eine Kritik in »Life« oder »Time« über Wohl und Wehe eines Films entscheiden. Der Gedanke, sein Urteil habe David Leans Melo für alle Zeiten und unwiderruflich verbrannt, lässt ihn nachträglich Krokodilstränen vergießen. Andererseits stellte er sich mit diesem Auftritt durchaus in den Dienst einer Rehabilitierung. Wenn ich es recht erinnere, revidiert er sein erstes Urteil nicht wesentlich, legt aber eine gewisse Milde an den Tag.

Tatsächlich gab er eine doppeldeutige Figur ab. In den zahlreichen Dokumentationen, die er für den öffentlich-rechtlichen Sender PBS und später für Turner Classic Movies über das klassische Hollywood drehte, zeigt er sich als glühender Nostalgiker. Die Serie »The Men who made the Movies«, in der er Cukor, Hawks, Minnelli, Walsh und andere porträtiert, fungierte in den 70ern als Ehrenrettung dieser Generation, die in den Augen der US-Kritik (im Gegensatz zur französischen, und natürlich mit Ausnahme von Andrew Sarris) bis dahin nicht die höheren Weihen als Autoren erhalten hatten. In Buchform funktionieren diese Porträts nicht so gut (obgleich der Kauf damals kein Fehler war, da sie hier zu Lande nicht zu sehen waren). Einige von ihnen haben nach wie vor Bestand, was sich Bonusmaterial diverser DVD-Editionen überprüfen lässt. Auch in seinen Buchpublikationen blieb er dem klassischen Hollywood treu. Seiner Monographie von Elia Kazan verdanke ich kostbare Anregungen. Vor allem das Kapitel über »Wilder Strom« fand ich exzellent. Wie Schickel den langen Gärungsprozess dieses Projektes, von der Depressionszeit bis in die frühen 60er Jahre, beschreibt, führte mir eindrücklich vor Augen, dass dies der persönlichste Film des Regisseurs ist. Sein bester ist es ohnehin.

Das Aufkommen des Internets betrachtete Schickel mit herablassender Skepsis. Seine Auffassung von Filmkritik war eine aristokratische oder doch zumindest meritokratische. Blogs tat er als flüchtige Gesprächskultur ab. Ob er angesichts einer neuen Generation, deren Stimme sich nun frei Gehör verschaffen konnte, einen Statusverlust fürchtete? Auszuschließen ist es nicht. Nach seiner Zeit bei »Time« schrieb er dann doch für einen Blog, truthdig.com, blieb dabei aber weitgehend der traditionellen Filmkritik verpflichtet. Zur Ursache seines Todes gibt es zwei verschiedene Varianten. Zuerst las ich, er sei einer Folge von Schlaganfällen erlegen. Dann gab seine Tochter bekannt, er habe an Demenz gelitten. Das wünscht sich kein Filmkritiker.

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