Postume Dankbarkeit
Wer die Gewohnheit hat, bis zum Ende des Abspanns im Kino zu bleiben, wird für diese seit jeher unzeitgemäße Geduld oft belohnt. Mitunter erbeutet er interessante, verblüffende oder launige Informationen. Zuweilen verlässt er den Saal mit einem Rätsel, das es zu lösen gilt. Gerade habe ich »Tom à la ferme« / »Sag' nicht wer du bist« gesehen, den vierten, mittlerweile bereits vorletzten Film des Québecer Wunderkindes Xavier Dolan, der am 21. August bei uns startet.
Am Ende der zahlreichen Danksagungen steht ein denkwürdiger Satz: Der Regisseur dankt niemandem bei Fujifilm. Kurz darauf erscheint das Logo von Kodak, was vielleicht schon die Erklärung für diese dezente Provokation liefert: Dolan gehört zu den Unentwegten, die noch auf Zelluloid drehen. Fuji war da offenbar weniger kooperativ als die in den 1880er Jahren von George Eastman gegründete Firma, die seitdem zu den wichtigsten Lieferanten von Filmmaterial gehörte. Ihr Festhalten an Filmemulsionen bekräftigte die Firma im Herbst 2011 als Sponsor eines Kongresses über die Digitalisierung, den die Cinémathèque Francaise veranstaltete. Das seinerzeit bereits trotzig klingende Motto lautete »Film. No Compromise«. Schon wenige Monate später musste die Firma Kreide fressen; im Januar 2012 meldete sie Insolvenz an.
Aber sie ist noch nicht Vergangenheit – oder zumindest eine Vergangenheit, die nicht abgeschlossen ist. In der letzten Woche machte die Meldung des Wall Street Journal die Runde, dass einige Filmproduzenten, darunter Harvey Weinsteins Bruder Bob, sowie die Studios Warner Bros., Universal, Paramount und Disney, sich hinfort zu einer Festabnahme von Filmmaterial verpflichten wollen. Das ist einerseits eine Freundschaftsgeste an Regisseure wie Quentin Tarantino (der »The Hateful Eight« in 70mm drehen will) und Christopher Nolan, die weiterhin Zelluloid vorziehen. Auch J.J. Abrams wird die nächste »Star Wars«-Episode auf Film drehen. Natürlich wird die Menge nur noch einen Bruchteil dessen sein, was die Filmindustrie vor wenigen Jahren noch orderte. Aber Filmemachern sollen weiterhin die Möglichkeit haben, zu wählen. Das Ganze wirkt wie eine privatwirtschaftliche Subvention, die der Tyrannei des Fortschritts zuwiderläuft.
Ob Hollywood mit derlei Mäzenatentum auch eine Bringschuld abträgt? Die Filmindustrie hat Kodak viel zu verdanken. Nicht von ungefähr ist das Theater, in dem alljährlich die Oscars verliehen werden, nach der Firma benannt. Das George Eastman House in Rochester beherbergt eine der wichtigsten Filmsammlungen der USA; die Stummfilmdiva Louise Brooks lebte dort von einer Pension des Unternehmens. Eastman war ein großer Philanthrop und Sozialreformer, der mit den Gewinnen seines Konzerns und dem Ertrag seiner zahlreichen Patente u. a. den Musikunterricht, die wissenschaftliche Forschung und afro-amerikanische Bürger förderte. Ein besonderes Steckenpferd von Mr. Eastman war die Zahnpflege - einer meiner Lieblingsorte in Brüssel ist das prächtige Dentalinstitut im Parc Leopold, das allerdings erst nach seinem Selbstmord (»My work is done, why wait?«) eröffnet wurde.
In den USA, die normalerweise immer das Tempo vorgeben, verlief die Digitalisierung eine Spur zögerlicher als beispielsweise in Frankreich und Deutschland, wo sie sich geisterhaft schnell vollzog. Das liegt womöglich auch daran, dass mächtige, einflussreiche Filmemacher sich beharrlich weigern, Abschied vom Zelluloid zu nehmen. Während sich Steven Spielberg bislang noch nicht zu dem Vorstoß äußerte, gab Martin Scorsese gestern eine Stellungnahme ab, deren Tonfall und Ausrichtung mich beim ersten Lesen etwas verblüfften. Den Vorzügen digitaler Dreh- und Vertriebstechniken räumt er erstaunlich viel Platz ein; er weiß, wohin die Zukunft geht. Als Vorsitzender der Film Foundation hingegen misstraut er ihrer Eignung als Medium der Konservierung. Gewiss ist es klug, sich auf solch pragmatische Weise zu positionieren und die Nostalgie außen vor zu lassen. Scorseses Worte sind wohlerwogen, er schreibt nichts, das falsch wäre. Aber nach mehrmaligem Lesen weiß ich nun, was mich an seinem Statement verwunderte: Es ist so wenig Leidenschaft darin zu spüren.
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